Geschichte Raum geben

»Schwachsinn wurde hier nicht festgestellt«

ZWANGSSTERILISATION IN LÜNEBURG

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Zu Beginn jeder Sterilisation in den 1930er- und 1940er-Jahren stand zunächst der Mensch, der im Sinne der am Ende des 19. Jahrhunderts Aufschwung erhaltenden »Rassenhygiene« und »Eugenik« als potenziell »erbkrank« angesehen wurde. Eine wesentliche Grundlage der »Rassenhygiene« und »Eugenik« bildeten die »Rassenlehre« von Arthur de Gobineau (ab 1852) und der Sozialdarwinismus nach Herbert Spencer (ab 1864). Spencer stützte die These, dass sich die biologische Evolution durch ein »survival of the fittest«, also durch das Überleben des am besten Angepassten bzw. des Geeignetsten vollziehe. Francis Galton begründete die »Eugenik« als Wissenschaft (ab 1883), Alfred Ploetz führte den Begriff der »Rassenhygiene« ein (ab 1895). »Positive Eugenik« oder »positive Rassenhygiene« beabsichtigte fortan eine Verbesserung des Erbgutes durch zum Beispiel Förderung von Kinderreichtum gesellschaftlich angesehener bzw. erwünschter Familien. »Negative Eugenik« oder »negative Rassenhygiene« umfasste hingegen die Beseitigung sogenannten »schlechten Erbgutes« aus einer Bevölkerung zur Eindämmung sozialer Ausgaben sowie zugunsten erhoffter »erbgesunder« zukünftiger Generationen.

Die Idee der Eugenik oder »Rassenhygiene« war kein auf Deutschland beschränktes Phänomen. In einzelnen Staaten der USA sowie in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden wurden bereits ab Ende der 1920er-Jahre Sterilisationsgesetze zur Entlastung des Wohlfahrtsstaates angewandt. Mit Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (ab 1927) und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (ab 1931), Letztere ebenfalls unter der Leitung von Eugen Fischer sowie Ernst Rüdin, wurden bereits vor der Machtübernahme der NSDAP auch in Deutschland Strukturen geschaffen, die während der NS-Zeit der wissenschaftlichen Legitimation der nationalsozialistischen Rassenpolitik dienten.

Nach der Machtübernahme der NSDAP (ab 1933) wurde auch in Deutschland zügig ein Sterilisationsgesetz eingeführt, das im Unterschied zu den internationalen Vorbildern die ungehinderte Zwangssterilisation ermöglichte, d. h. eine Unfruchtbarmachung auch gegen den Willen Betroffener. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurde am 14. Juli 1933 verabschiedet und trat am 1. Januar 1934 in Kraft. In den Grenzen des Deutschen Reiches wurden in den Jahren 1934 bis 1945 insgesamt 400.000 Frauen und Männer sterilisiert. Rund 5.000 starben infolge des Eingriffs.

Zur Anwendung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurden an den Gerichtsstandorten der Amtsgerichte eigens für die Sterilisationsverfahren zuständige »Erbgesundheitsgerichte« geschaffen. Für die Sterilisation infrage kommende Personen wurden dem zuständigen Gesundheitsamt angezeigt. Ging aus der Anzeige hervor, dass die Kriterien des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« gegebenenfalls zutrafen, wurde ein Gerichtsverfahren am Erbgesundheitsgericht eingeleitet. Bestandteile des Gerichtsverfahrens waren eine ärztliche Begutachtung, die Intelligenzprüfung sowie eine Anhörung der betroffenen Person. Dem Gericht saßen ein Amtsrichter und zwei Ärzte vor.

Auf Basis der Gutachten, der Intelligenzprüfung sowie der Anhörung fällte das Erbgesundheitsgericht das Urteil. Binnen zwei Wochen nach Urteilsverkündung konnten die Betroffenen Einspruch erheben. Dann ging das Verfahren in die zweite Gerichtsinstanz an das zuständige Erbgesundheitsobergericht. Wurde das Urteil durch die Verurteilten angenommen bzw. in zweiter Instanz bestätigt, wurden sie in ein Krankenhaus einbestellt und dort operiert. Im Anschluss meldeten die Krankenhäuser die durchgeführten Sterilisationen an das Erbgesundheitsgericht sowie an das Gesundheitsamt zurück.

Viele Menschen früher glauben:
Es gibt richtige und falsche Menschen.
Sie unterscheiden Menschen in Rassen.
So denken auch viele Wissenschaftler.
Sie sagen:
Es gibt gute und schlechte Rassen.
Und es gibt gesunde und kranke Menschen.

Die guten Rassen und gesunden Menschen sollen sich vermehren.
Nur sie sollen viele Kinder bekommen.
Die schlechten Rassen und die kranken Menschen sollen keine Kinder bekommen.
Sie sollen aussterben.
Das nennt man Eugenik. Oder Rassen-Hygiene.

Eugenik gibt es früher nicht nur in Nazi-Deutschland.
Es gibt sie auch in anderen Ländern.
In Dänemark und Norwegen, in Schweden und Finnland.
Und in manchen Teilen der USA.

In diesen Ländern gibt es damals ein Gesetz dafür.
Dieses Gesetz erlaubt die Zwangs-Sterilisation.
Das bedeutet:
Das Gesetz bestimmt, wer unfruchtbar gemacht werden darf.
Es sind Menschen mit Behinderungen.
Oder Menschen mit bestimmten Krankheiten.
Nach der Operation können diese Menschen keine Kinder mehr bekommen.

Die Nazis machen 1933 auch sehr schnell ein solches Gesetz.
Das Gesetz gilt ab dem 1. Januar 1934.

In dem Gesetz steht:
Menschen mit Erb-Krankheiten sollen keine Kinder bekommen.
Wer eine Erb-Krankheit hat, soll unfruchtbar gemacht werden.
Dann wird man operiert.
Nach der Operation kann man keine Kinder mehr bekommen.

Zwischen 1934 und 1945 werden in Deutschland 400.000 Menschen unfruchtbar gemacht.
Meistens gegen ihren Willen.
Sie können dann keine Kinder mehr bekommen.
5.000 Menschen sterben nach dieser Operation.

Überall in Deutschland gibt es ab 1933 Erb-Gesundheits-Gerichte.
Die Gerichte sagen ob jemand unfruchtbar gemacht werden muss.
Es gibt drei Richter.
Zwei von den Richtern sind immer Ärzte.
Sie untersuchen die Menschen.
Sie machen Tests und stellen Fragen.
Sie wollen wissen, wie schlau jemand ist.

Oft entscheiden die Richter:
Der Mensch ist dumm.
Oder er ist krank.
Dann werden diese Menschen unfruchtbar gemacht.

Zu den »Erbkrankheiten«,

die mithilfe von Zwangssterilisationen verhindert werden sollten, gehörten »angeborener Schwachsinn«, Schizophrenie, manisch-depressives »Irresein«, angeborene Taub- und Blindheit, »angeborene Fallsucht« bzw. Epilepsie, »erblicher Veitstanz« (Huntingtonsche Chorea), körperliche »Missbildungen« und Alkoholismus.

Anschreiben von Reichsinnenminister Frick vom 12.7.1933 samt Anlage [1. Seite] zum Entwurf des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«.

Zu den Erb-Krankheiten zählen die Nazis viele Krankheiten und Behinderungen.
Zum Beispiel das Leiden an Anfällen.
Oder große Traurigkeit.
Oder jemand lernt nicht so gut.
Und körperliche Behinderungen.
Wenn jemand blind ist oder taub.
Oder nicht richtig laufen kann.
Oder wenn jemand Alkoholiker ist.

Viele von diesen Behinderungen oder Krankheiten werden gar nicht vererbt.
Das heißt:
Die Kinder von Menschen mit Krankheiten bekommen diese Krankheit gar nicht.
Aber das ist den Nazis egal.

 

Bei unklarer Sachlage

konnten eine stationäre Beobachtung in einer Heil- und Pflegeanstalt und ein ausführliches Gutachten angeordnet werden.

Veröffentlichung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14.7.1933 im Reichsgesetzblatt vom 25.7.1933.

Manchmal sind die Richter nicht ganz sicher.
Sie wissen nicht wie sie entscheiden sollen.
Darf der Mensch Kinder bekommen oder nicht?
Dann kommen die Menschen in eine Anstalt.
Dort werden sie weiter untersucht.
Oft bleibt das Ergebnis:
Der Mensch muss unfruchtbar gemacht werden.

 

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