Zwischen 1934 und 1945 gingen beim Gesundheitsamt Lüneburg mindestens 3.771 Anzeigen für eine Sterilisation ein, bei denen es in mindestens 2.358 Fällen auch zu Gerichtsverhandlungen am Erbgesundheitsgericht Lüneburg kam. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg hatte seinen Sitz beim örtlichen Amtsgericht. Das Erbgesundheitsobergericht war in Celle und dem dortigen Oberlandesgericht angegliedert. Neben dem Amtsrichter saß dem Lüneburger Erbgesundheitsgericht unter anderem auch der Ärztliche Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Max Bräuner vor, der zugleich Kreisbeauftragter für das Rassenpolitische Amt der NSDAP Lüneburg-Stadt war.
Im Unterschied zu anderen Gerichtsbezirken blieb etwa die Hälfte der Lüneburger Akten zu den in Lüneburg und Celle verhandelten Gerichtsfällen erhalten. Darüber hinaus gibt es acht Sterilisationsbücher der Landesfrauenklinik Celle, in denen rund 250 weitere Frauen identifiziert werden können, die über das Lüneburger Gericht verhandelt wurden. Hinzu kommen Frauen und Männer, über deren Unfruchtbarmachung es in anderen Unterlagen Belege gibt. Da die Akten unvollständig sind, kann nach der derzeitigen Quellenlage insgesamt von mindestens 759 belegten Einzelfällen tatsächlich durchgeführter Sterilisationen ausgegangen werden.
Bei weiteren 65 Fällen ist ein Gerichtsbeschluss über eine durchzuführende Sterilisation bekannt, jedoch fehlt ein Beleg für den Eingriff (z. B. Informationen zum Sterilisationszeitpunkt). Trotz hoher Wahrscheinlichkeit werden diese Einzelfälle aus Mangel an Beweisen über eine tatsächliche Vollstreckung außer Acht gelassen.
Die genannten Zahlen beziehen sich daher ausschließlich auf diejenigen Einzelfälle, bei denen sowohl ein Gerichtsbeschluss über eine durchzuführende Sterilisation als auch Nachweise über die Realisierung vorliegen. Sie geben nur ein Minimum der Dimension der Zwangssterilisation in Lüneburg wieder.
Der Erste, der nachweislich nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« durch einen Gerichtsbeschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichtes vom 4. Mai 1934 sterilisiert wurde, war der Lüneburger Tapezierer Wilhelm Klatt. Er wurde nur vier Wochen nach seinem Gerichtsbeschluss am 19. Juni 1934 operiert. Das letzte überlieferte Sterilisationsdatum aus der Zeit des Nationalsozialismus ist der 7. März 1945. Betroffen war die 21-jährige landwirtschaftliche Gehilfin Anni Korn. Sie wurde in Lüneburg operiert.
Die meisten Sterilisationen wurden in den ersten vier Jahren durchgeführt. Kriegsbedingt ging die Zahl ab 1939 stark zurück. Ab dann wurden zunächst nur noch »dringliche Fälle« behandelt.
Von den nachweislich mindestens 759 Sterilisierten waren 35 Prozent Männer und 65 Prozent Frauen. 261 Betroffene, d. h. mehr als ein Drittel aller Betroffenen, lebten im Lüneburger Stadtgebiet.
Die Betroffenen der Zwangssterilisation lebten überwiegend in den Stadtteilen Altstadt, Goseburg-Zeltberg und Hagen. Oft traf es gleich mehrere Nachbarn in einer Straße und ganze Straßenzüge: Salzbrückerstraße, Auf dem Meere, Auf der Altstadt, Hinter der Sülzmauer, Schrangenstraße, Bardowicker Straße, Bardowicker Wasserweg, Sternkamp, Gellersstraße, Wedekindstraße.
194 Betroffene kamen aus dem Landkreis Lüneburg, sodass mindestens 60 Prozent der vom Erbgesundheitsgericht zur Sterilisation Verurteilten aus der Stadt und dem Landkreis Lüneburg kamen. Das entsprach etwa 2,35 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit lag der Anteil deutlich über dem reichsweiten Durchschnitt (0,5 – 1,0 Prozent).
Das Einzugsgebiet des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg reichte von Uelzen bis Lauenburg an der Elbe, umfasste die Landkreise Lüneburg, Uelzen, Harburg, Lüchow-Dannenberg und Celle in einem Radius von 35 km. Einzelne Betroffene kamen aus Bremen, Kiel und Berlin.
Das Durchschnittsalter der Sterilisierten lag bei 26 Jahren. Die Frauen waren mit 25 Jahren deutlich jünger als die Männer, die im Durchschnitt 28 Jahre alt waren. Das jüngste weibliche Opfer der Zwangssterilisation war Inge Wernitz mit gerade einmal 14 Jahren. Sie wurde am 14. Dezember 1928 in Lüneburg geboren und fünf Wochen nach ihrem Geburtstag am 21. Januar 1943 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg aufgrund angeblichen »erblichen Schwachsinns« zwangssterilisiert. Der älteste zwangssterilisierte Mann war Gustav Lindenau. Er wurde am 25. August 1875 in Ortelsburg (damals Ostpreußen) geboren und am 12. Juni 1939 im Alter von 63 Jahren aufgrund »schweren Alkoholismus« im Städtischen Krankenhaus Lüneburg unfruchtbar gemacht. Zum Zeitpunkt des Urteils befand er sich noch im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Menschen mit Behinderung und bestimmten Krankheiten sollen angezeigt werden.
Beim Gesundheits-Amt.
Meistens machen Ärzte eine Anzeige.
Aber auch Lehrer oder Erzieher.
Jeder kann so eine Anzeige machen.
Es gibt fast 4.000 Anzeigen beim Gesundheits-Amt in Lüneburg.
Zwischen 1934 und 1945.
So viele Menschen sollen unfruchtbar gemacht werden.
Bei über Hälfte der Menschen gibt es eine Gerichts-Verhandlung.
Es gibt noch viele Akten aus dem Gericht.
In den Akten steht alles drin über die Verhandlung.
Und über das Urteil.
Von über 750 Menschen wissen wir daher alles ganz genau.
Nur über die sprechen wir hier.
Auch wenn es eigentlich viel mehr sind.
Wilhelm Klatt ist der erste der unfruchtbar gemacht wird.
Er wird am 19. Juni 1934 operiert.
Er ist Tapezierer.
Anni Korn ist die letzte die unfruchtbar gemacht wird.
Sie wird am 7. März 1945 operiert.
Sie arbeitet in der Land-Wirtschaft.
Die meisten Operationen gibt es zwischen den Jahren 1934 und 1938.
Danach werden es weniger.
Weil ab 1939 Krieg ist.
Etwas mehr als die Hälfte der unfruchtbar Gemachten sind Frauen.
Etwas weniger als die Hälfte sind Männer.
Fast jeder Dritte lebt in der Stadt Lüneburg.
Oft wohnen mehrere Menschen in einer Straße.
Es sind Nachbarn.
Oder sie gehören zu einer Familie.
Insgesamt werden fast 200 Menschen aus der Stadt oder dem Land-Kreis Lüneburg unfruchtbar gemacht.
Das sind mehr als 2 Prozent der Menschen aus der Stadt oder dem Land-Kreis Lüneburg.
Das sind doppelt so viele wie an anderen Orten.
Viele von ihnen wohnen auch in anderen Land-Kreisen in der Nähe.
In den Land-Kreisen Uelzen oder Harburg.
Oder Celle oder Lüchow-Dannenberg.
Einige kommen auch aus Bremen oder Kiel oder Berlin.
Bei ihrer Sterilisation sind die Menschen meistens unter 30 Jahre alt.
Die jüngste Frau heißt Inge Wernitz.
Es heißt: Sie ist schwach-sinnig.
Sie wird am 21. Januar 1943 im Lüneburger Kranken-Haus operiert.
Da ist sie erst 14 Jahre alt.
Der älteste Mann ist Gustav Lindenau.
Er ist in einem Konzentrations-Lager eingesperrt.
Er soll »schwerer Alkoholiker« sein.
Das Gericht das entscheidet:
Am 12. Juni 1939 wird er unfruchtbar gemacht.
Er ist 63 Jahre alt.