Geschichte Raum geben

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Zwischen 1934 und 1945 gingen beim Gesundheitsamt Lüneburg mindestens 3.771 Anzeigen für eine Sterilisation ein, bei denen es in mindestens 2.358 Fällen auch zu Gerichtsverhandlungen am Erbgesundheitsgericht Lüneburg kam. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg hatte seinen Sitz beim örtlichen Amtsgericht. Das Erbgesundheitsobergericht war in Celle und dem dortigen Oberlandesgericht angegliedert. Neben dem Amtsrichter saß dem Lüneburger Erbgesundheitsgericht unter anderem auch der Ärztliche Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg Max Bräuner vor, der zugleich Kreisbeauftragter für das Rassenpolitische Amt der NSDAP Lüneburg-Stadt war.

Im Unterschied zu anderen Gerichtsbezirken blieb etwa die Hälfte der Lüneburger Akten zu den in Lüneburg und Celle verhandelten Gerichtsfällen erhalten. Darüber hinaus gibt es acht Sterilisationsbücher der Landesfrauenklinik Celle, in denen rund 250 weitere Frauen identifiziert werden können, die über das Lüneburger Gericht verhandelt wurden. Hinzu kommen Frauen und Männer, über deren Unfruchtbarmachung es in anderen Unterlagen Belege gibt. Da die Akten unvollständig sind, kann nach der derzeitigen Quellenlage insgesamt von mindestens 759 belegten Einzelfällen tatsächlich durchgeführter Sterilisationen ausgegangen werden.

Bei weiteren 65 Fällen ist ein Gerichtsbeschluss über eine durchzuführende Sterilisation bekannt, jedoch fehlt ein Beleg für den Eingriff (z. B. Informationen zum Sterilisationszeitpunkt). Trotz hoher Wahrscheinlichkeit werden diese Einzelfälle aus Mangel an Beweisen über eine tatsächliche Vollstreckung außer Acht gelassen.
Die genannten Zahlen beziehen sich daher ausschließlich auf diejenigen Einzelfälle, bei denen sowohl ein Gerichtsbeschluss über eine durchzuführende Sterilisation als auch Nachweise über die Realisierung vorliegen. Sie geben nur ein Minimum der Dimension der Zwangssterilisation in Lüneburg wieder.

Der Erste, der nachweislich nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« durch einen Gerichtsbeschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichtes vom 4. Mai 1934 sterilisiert wurde, war der Lüneburger Tapezierer Wilhelm Klatt. Er wurde nur vier Wochen nach seinem Gerichtsbeschluss am 19. Juni 1934 operiert. Das letzte überlieferte Sterilisationsdatum aus der Zeit des Nationalsozialismus ist der 7. März 1945. Betroffen war die 21-jährige landwirtschaftliche Gehilfin Anni Korn. Sie wurde in Lüneburg operiert.
Die meisten Sterilisationen wurden in den ersten vier Jahren durchgeführt. Kriegsbedingt ging die Zahl ab 1939 stark zurück. Ab dann wurden zunächst nur noch »dringliche Fälle« behandelt.
Von den nachweislich mindestens 759 Sterilisierten waren 35 Prozent Männer und 65 Prozent Frauen. 261 Betroffene, d. h. mehr als ein Drittel aller Betroffenen, lebten im Lüneburger Stadtgebiet.

Die Betroffenen der Zwangssterilisation lebten überwiegend in den Stadtteilen Altstadt, Goseburg-Zeltberg und Hagen. Oft traf es gleich mehrere Nachbarn in einer Straße und ganze Straßenzüge: Salzbrückerstraße, Auf dem Meere, Auf der Altstadt, Hinter der Sülzmauer, Schrangenstraße, Bardowicker Straße, Bardowicker Wasserweg, Sternkamp, Gellersstraße, Wedekindstraße.

194 Betroffene kamen aus dem Landkreis Lüneburg, sodass mindestens 60 Prozent der vom Erbgesundheitsgericht zur Sterilisation Verurteilten aus der Stadt und dem Landkreis Lüneburg kamen. Das entsprach etwa 2,35 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit lag der Anteil deutlich über dem reichsweiten Durchschnitt (0,5 – 1,0 Prozent).

Das Einzugsgebiet des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg reichte von Uelzen bis Lauenburg an der Elbe, umfasste die Landkreise Lüneburg, Uelzen, Harburg, Lüchow-Dannenberg und Celle in einem Radius von 35 km. Einzelne Betroffene kamen aus Bremen, Kiel und Berlin.

Das Durchschnittsalter der Sterilisierten lag bei 26 Jahren. Die Frauen waren mit 25 Jahren deutlich jünger als die Männer, die im Durchschnitt 28 Jahre alt waren. Das jüngste weibliche Opfer der Zwangssterilisation war Inge Wernitz mit gerade einmal 14 Jahren. Sie wurde am 14. Dezember 1928 in Lüneburg geboren und fünf Wochen nach ihrem Geburtstag am 21. Januar 1943 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg aufgrund angeblichen »erblichen Schwachsinns« zwangssterilisiert. Der älteste zwangssterilisierte Mann war Gustav Lindenau. Er wurde am 25. August 1875 in Ortelsburg (damals Ostpreußen) geboren und am 12. Juni 1939 im Alter von 63 Jahren aufgrund »schweren Alkoholismus« im Städtischen Krankenhaus Lüneburg unfruchtbar gemacht. Zum Zeitpunkt des Urteils befand er sich noch im Konzentrationslager Sachsenhausen.

 

Menschen mit Behinderung und bestimmten Krankheiten sollen angezeigt werden.
Beim Gesundheits-Amt.
Meistens machen Ärzte eine Anzeige.
Aber auch Lehrer oder Erzieher.
Jeder kann so eine Anzeige machen.

Es gibt fast 4.000 Anzeigen beim Gesundheits-Amt in Lüneburg.
Zwischen 1934 und 1945.
So viele Menschen sollen unfruchtbar gemacht werden.
Bei über Hälfte der Menschen gibt es eine Gerichts-Verhandlung.

Es gibt noch viele Akten aus dem Gericht.
In den Akten steht alles drin über die Verhandlung.
Und über das Urteil.
Von über 750 Menschen wissen wir daher alles ganz genau.
Nur über die sprechen wir hier.
Auch wenn es eigentlich viel mehr sind.

Wilhelm Klatt ist der erste der unfruchtbar gemacht wird.
Er wird am 19. Juni 1934 operiert.
Er ist Tapezierer.

Anni Korn ist die letzte die unfruchtbar gemacht wird.
Sie wird am 7. März 1945 operiert.
Sie arbeitet in der Land-Wirtschaft.

Die meisten Operationen gibt es zwischen den Jahren 1934 und 1938.
Danach werden es weniger.
Weil ab 1939 Krieg ist.

Etwas mehr als die Hälfte der unfruchtbar Gemachten sind Frauen.
Etwas weniger als die Hälfte sind Männer.
Fast jeder Dritte lebt in der Stadt Lüneburg.
Oft wohnen mehrere Menschen in einer Straße.
Es sind Nachbarn.
Oder sie gehören zu einer Familie.

Insgesamt werden fast 200 Menschen aus der Stadt oder dem Land-Kreis Lüneburg unfruchtbar gemacht.
Das sind mehr als 2 Prozent der Menschen aus der Stadt oder dem Land-Kreis Lüneburg.
Das sind doppelt so viele wie an anderen Orten.

Viele von ihnen wohnen auch in anderen Land-Kreisen in der Nähe.
In den Land-Kreisen Uelzen oder Harburg.
Oder Celle oder Lüchow-Dannenberg.
Einige kommen auch aus Bremen oder Kiel oder Berlin.

Bei ihrer Sterilisation sind die Menschen meistens unter 30 Jahre alt.
Die jüngste Frau heißt Inge Wernitz.
Es heißt: Sie ist schwach-sinnig.
Sie wird am 21. Januar 1943 im Lüneburger Kranken-Haus operiert.
Da ist sie erst 14 Jahre alt.

Der älteste Mann ist Gustav Lindenau.
Er ist in einem Konzentrations-Lager eingesperrt.
Er soll »schwerer Alkoholiker« sein.
Das Gericht das entscheidet:
Am 12. Juni 1939 wird er unfruchtbar gemacht.
Er ist 63 Jahre alt.

Hans Rohlfing

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Hans Rohlfing wurde am 31. Juli 1890 in Rohrbach bei Heidelberg geboren. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und studierte ab Herbst 1908 Medizin an der »Kaiser Wilhelm Akademie für das militärärztliche Bildungswesen« in Berlin. Anfang August 1914 bestand er die ärztliche Prüfung mit der Note »gut« und wurde direkt danach als Truppenarzt in verschiedenen Infanterieregimentern in den Krieg eingezogen. Im Juli 1916 erfolgte die Promotion. Seine Doktorarbeit schrieb er »Über Schußverletzungen mit Platzpatronen«. Nach Kriegsende und fünfmonatiger Internierung in Antwerpen blieb er noch bis April 1920 Sanitätsoffizier bei der Reichswehr. In dieser Zeit lernte er seine Ehefrau Annette von Medow kennen, die er am 28. November 1919 heiratete.

Da er aufgrund des Versailler Vertrages keine Zukunft als Militärarzt hatte, trat er am 1. April 1920 eine Stelle als Medizinischer Amtmann beim Versorgungskrankenhaus Darmstadt an. 1921 wechselte er in das Versorgungsamt nach Uelzen und holte eine Kreisarztprüfung nach, um ein Jahr später zum Kreisassistenzarzt für den Kreisarztbezirk Uelzen-Soltau berufen zu werden. Am 1. April 1928 wurde Rohlfing zum Leiter des Staatlichen Gesundheitsamtes befördert, über Lüchow kam er am 1. Oktober 1930 zum Staatlichen Gesundheitsamt Lüneburg.

Nach der Machtübernahme durch die NSDAP änderte sich Rohlfings Arbeitsfeld eklatant. Hauptsächlich gehörten nun die Beratung in Erb- und Rassenpflege, die erbbiologische Erfassung von sogenannten »Sippen« sowie die Untersuchung und Begutachtung von sogenannten »Erbkranken«, von Ehestandsdarlehensbewerbern, von kinderreichen Familien und von Siedlern nach rassenhygienischen Kriterien zu seinen neuen amtsärztlichen Aufgaben. Er bewilligte oder lehnte Ehetauglichkeitsbescheinigungen und Kinderreichenbeihilfe ab, er stellte im Auftrag der Gestapo die sogenannte »Rassenzugehörigkeit« von Häftlingen fest und bildete Fürsorgerinnen und Gemeindeschwestern zur Anwendung der Rassengesetze aus.

Auch war Hans Rohlfing Mitglied des Lüneburger Erbgesundheitsgerichtes. Bis zum 1. Oktober 1944 war Rohlfing an jedem Sterilisationsverfahren beteiligt, entweder als amtsärztlicher Gutachter oder als gerichtsärztlicher Richter. Glühende Reden, die er ab 1934 hielt, belegen, dass er von seinen neuen Aufgaben überzeugt war. Bereits im März 1938 meldete er dem Amt für Volksgesundheit für sein Einzugsgebiet, dass »[…] 80% aller Erbkranken und erbkranken Familien jetzt erfasst worden [seien].«

Da das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« nach 1945 noch Gültigkeit behielt, wurde seine Verstrickung in die Zwangssterilisationen im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens nicht als Unrecht, sondern als gesetzeskonform definiert. Nur so war es möglich, dass Hans Rohlfing sein 40-jähriges Dienstjubiläum unbeschadet feiern konnte und bis zu seiner Pensionierung als Oberregierungs- und Medizinalrat tätig war. 1951 wurde er zudem Vertrauensarzt der Landesversicherungsanstalt und Gefängnisarzt beim Landgericht Lüneburg. 1953 wurde er erneut gerichtsärztlicher Gutachter sowie Obergutachter beim Landgericht und beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg. 1955 ging Hans Rohlfing in den Ruhestand. Er starb am 26. Februar 1977 im Alter von 86 Jahren und hinterließ keine Kinder.

Hans Rohlfing wird am 31. Juli 1890 geboren.
Sein Vater ist Arzt.
Hans Rohlfing wird auch Arzt.
1914 wird er Arzt für die Soldaten im 1. Welt-Krieg.

Er bleibt bis 1920 Arzt in der Armee.
Da ist der Krieg schon aus.
1919 heiratet er seine Frau Anette.
Aber er kann nicht Arzt in der Armee bleiben.

Er wird Arzt im Gesundheits-Amt.
In verschiedenen Orten.
1930 wird er Arzt im Gesundheits-Amt Lüneburg.
Dort kümmert er sich um die Menschen in Lüneburg.
Um ihre Gesundheit.
Um ihren Schutz vor Krankheiten.

Das ändert sich 1933.
Nun bestimmen die Nazis in Deutsch-Land.
Hans Rohlfing hat nun andere Aufgaben.
Er soll Menschen finden die erb-krank sind.

Er untersucht viele Menschen:
• die heiraten wollen
• die viele Kinder haben
• die Familien-Angehörige mit einer Behinderung haben
• die im Gefängnis sind

Ab 1934 ist er auch Richter.
Am Erb-Gesundheits-Gericht in Lüneburg.
Dort ist er zehn Jahre.
Das ist seine Haupt-Aufgabe.
Dort bestimmt er mit zwei anderen Richtern.
Er bestimmt über viele Menschen.
Er entscheidet:
481 Menschen werden sterilisiert.
Gegen ihren Willen.

Hans Rohlfing ist ein Nazi.
Er denkt:
Es ist gut dass viele Menschen sterilisiert werden.
Er will alle Menschen mit Erb-Krankheiten im Land-Kreis Lüneburg finden.
Viele Menschen dürfen nicht heiraten.
Weil er es nicht erlaubt.

Er meldet auch viele Kinder und Jugendliche.
Er sagt:
Diese Kinder haben eine Behinderung.
Sie müssen in eine Anstalt.
Viele Kinder werden in der Kinder-Fach-Abteilung Lüneburg getötet.

Hans Rohlfing ist ein Nazi.
Aber er ist nicht in der Nazi-Partei.
Als der Krieg aus ist wird er entlassen.
Von den Engländern.
Aber bald darf er wieder arbeiten.
Weil er nicht in der Nazi-Partei war.

Bis 1955 arbeitet Hans Rohlfing als Arzt.
Er hat viel Macht.
Er bestimmt weiter über viele Menschen.
Er ist Gefängnis-Arzt.
Und er untersucht Menschen die vor Gericht stehen.
Dann schreibt er einen Bericht.
Dann bekommen die Menschen eine Strafe.
Der Bericht ist dabei sehr wichtig.
Hans Rohlfing ist sehr wichtig.

Am 26. Februar 1977 stirbt Hans Rohlfing.
Er ist 86 Jahre alt.
Für seine Verbrechen wird er nie bestraft.

Belegte Sterilisationen

durch Beschlüsse des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg zwischen 1934 und 1945.

So viele Sterilisationen gab es zwischen 1934 und 1945.

Wohnorte der Betroffenen in Lüneburg

 – heutiges Stadtgebiet

• Dichte der Wohnorte.

Hier wohnten die unfruchtbar gemachten Menschen in Lüneburg.

Stadt Lüneburg Anzahl der Opfer: 261

Landkreis Lüneburg Anzahl der Opfer: 196

Landkreis Herzogtum Lauenburg Anzahl der Opfer: 2

Landkreis Celle Anzahl der Opfer: 89

Stadt Celle Anzahl der Opfer: 60

Landkreis Hildesheim Anzahl der Opfer: 3

Landkreis Gifhorn Anzahl der Opfer: 16

Bremen Anzahl der Opfer: 2

Landkreis Dannenberg Anzahl der Opfer: 16

Landkreis Uelzen Anzahl der Opfer: 34

Stadt Uelzen Anzahl der Opfer: 8

Stadt Hamburg Anzahl der Opfer: 4

Landkreis Rotenburg Anzahl der Opfer: 3

Landkreis Harburg Anzahl der Opfer: 13

Landkreis Hannover Anzahl der Opfer: 6

Landkreis Heidekreis Anzahl der Opfer: 18

Stadt Soltau Anzahl der Opfer: 4

Einzugsgebiet

des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg

– Radius

• Orte im Einzugsgebiet mit mehreren Fällen.

Aus diesen anderen Orten kamen die unfruchtbar gemachten Menschen.

Kurt Heine

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Kurt Heine wurde am 20. Oktober 1897 als Sohn des Revierförsters in Garlstorf im Kreis Winsen geboren. Er genoss eine höhere Bildung und meldete sich im Alter von 19 Jahren freiwillig zum Militärdienst. Ab dem 1. April 1917 wurde er bei der Marine zum Techniker ausgebildet. Die Ausbildung endete im Juli 1918, und er nahm im Anschluss an einer Offiziersausbildung in Kiel teil. Im Februar 1919 musste er diese jedoch abbrechen, da nach Ende des Ersten Weltkriegs kein weiterer Offiziersnachwuchs ausgebildet wurde.

Es folgte eine zivile Ausbildung als Ingenieur, die er aufgrund einer Zuerkennung des Schulabschlusses ohne Reifeprüfung nahtlos aufnehmen konnte. Das Studium beendete er 1921 mit der Note »Gut« und wurde zunächst in Gröba in Sachsen sesshaft. Dort wurde er Mitglied der politischen Organisation Escherich e. V., einer republikfeindlichen Vereinigung, der sich unter anderem der Stahlhelm anschloss. Politisch war diese Organisation extrem rechts einzuordnen. Außerdem arbeitete er im Konstruktionsbüro einer Aktiengesellschaft, bei dem er eineinhalb Jahre später kündigte, angeblich »auf eigenen Wunsch«.

Er zog zurück zu seinen Eltern nach Radbruch, wo 1923 das erste Mal eine psychische Erkrankung aufgetreten sei. Im Juni 1928 erfolgte die Aufnahme in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, wo er ohne Unterbrechung bis 1943 blieb. Neben einer »Persönlichkeitsstörung« wurde ihm auch ein »allgemeines Nervenleiden« diagnostiziert. Als Grund für dieses »Nervenleiden« gab er einen Militärdienstunfall während seiner Ausbildungszeit an, auch um auf diese Weise die Chance auf eine Invalidenrente zu erhöhen. Doch das Versorgungsamt Celle lehnte eine Invalidenrente ab. Kurt Heine legte daraufhin Widerspruch ein, der Ausgang ist unklar.

1934 stellte Kurt Heine mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst einen Antrag auf Unfruchtbarmachung. Aufgrund der Gutachten in Zusammenhang mit der Invalidenrente wurde sein Antrag widerspruchslos angenommen, und obwohl bei Kurt Heine nachweislich keine »Erbkrankheit« vorlag, wie es das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vorgab, beschloss das Lüneburger Erbgesundheitsgericht die Sterilisation. Sie wurde am 31. Juli 1934 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg durchgeführt.

Kurt Heine ist ein junger Mann aus dem Land-Kreis Winsen.
Sein Vater ist Förster.
Er will Soldat werden.
Das ist im Ersten Welt-Krieg.
Der Krieg hört aber auf.
Kurt Heine muss sich eine neue Aufgabe suchen.
Kurt Heine lernt Techniker und geht nach Sachsen.
Das ist heute auch ein Bundesland in Deutschland.

Kurt Heine hat Pech.
Immer wieder verliert er seine Arbeit.
Weil es der Wirtschaft nach dem Ersten Welt-Krieg nicht gut geht.
Er muss wieder bei seinen Eltern wohnen.
Das macht ihn sehr traurig.
Er wird krank.

Im Jahr 1928 wird er Patient in der Anstalt.
Er hat ein Nerven-Leiden.
Er beantragt eine Rente.
Damit er Geld zum Leben hat.
Er bekommt keine Rente.
Weil er im Krieg nicht verletzt wurde.
Die Ärzte schreiben einen Bericht.
Sie schreiben:
Kurt Heine wurde nicht verletzt.

Dieser Bericht wird viele Jahre später wichtig.
Kurt Heine entscheidet nämlich daraufhin:
Ich muss unfruchtbar gemacht werden.
Ich darf niemals Kinder bekommen.
Ich bin zu krank.

Im Sommer 1934 wird Kurt Heine unfruchtbar gemacht.
Er ist einer der ersten in Lüneburg.
Er wird nur operiert weil es den Bericht gibt.
Weil er Patient in der Anstalt ist.
Und weil er denkt:
Meine Kinder könnten auch krank werden.
Aber das stimmt nicht.

Kurt Heine

ist kein typisches Opfer der »NS-Psychiatrie« und Zwangssterilisation. Er wurde Opfer der Kriegsfolgen des Ersten Weltkrieges und seiner eigenen ideologischen Überzeugung. In Zeiten ökonomischer und finanzpolitischer Krisen erlebte er immer wieder berufliche Misserfolge, die möglicherweise zu seiner Erkrankung beitrugen. Schwer erkrankt und ohne Selbstwertgefühl ließ er sich vermutlich freiwillig unfruchtbar operieren.

Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg vom 31. Juli 1934 über die Sterilisation von Kurt Heine. Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

Kurt Heine ist besonders.
Er entscheidet selbst über seine Sterilisation.
Er denkt:
Ich bin nichts wert.
Dabei hat er einfach nur Pech.
Nach dem Krieg findet er keine Arbeit.
Auch das macht ihn krank.
In der Anstalt denkt er:
Ich muss unfruchtbar gemacht werden.
Keiner stoppt ihn.

Ein Förderer aus Prag

gab ihm nach zehn Jahren NS-Psychiatrie im Jahr 1943 die Chance, ein neues Leben außerhalb der Psychiatrie zu beginnen. Es handelte sich um W. Otte aus Prag, der für Kurt Heine dort einen beruflichen Neuanfang ermöglichte. Er vermittelte ihm eine Anstellung im Bodenamt für Böhmen und Mähren, sodass Kurt Heine nach 15 Jahren Anstaltspsychiatrie eine Zukunftsperspektive erhielt. Er musste sich lediglich bewerben und bezüglich seiner Psychiatrieerfahrung bedeckt bleiben. Der weitere Verlauf seines Lebens ist unbekannt.

Schreiben des Bodenamtes für Böhmen und Mähren vom 29. September 1943. Archiv der »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg.

15 Jahre lang ist Kurt Heine Patient in der Anstalt.
Dann rettet ihn jemand.
Ein Mann mit dem Namen Otte hilft ihm.
Er findet Arbeit für Kurt Heine.
Kurt Heine entwickelt Hoffnung.
Er merkt:
Ich bin doch etwas wert.
Ich habe eine Zukunft.

Wie es weiter geht wissen wir nicht.

 

Zusatzmaterial

Rassen
Menschen werden in Gruppen eingeteilt. Zum Beispiel weil sie eine andere Hautfarbe haben. Oder eine andere Augenform. Eigentlich sind aber alle Menschen gleich.
Eugenik
Die guten Rassen und gesunden Menschen sollen sich vermehren. Nur sie sollen Kinder bekommen. Die schlechten Rassen und die kranken Menschen sollen keine Kinder bekommen. Sie sollen aussterben. Das nennt man Eugenik. Oder Rassen-Hygiene.
Sterilisation
bedeutet unfruchtbar machen
Nach der Operation kann der Mensch keine Kinder mehr bekommen.
Zwangs-Sterilisation
Die Menschen werden nicht gefragt, ob sie unfruchtbar gemacht werden wollen. Jemand Anderes entscheidet das.
Erb-Krankheit
Die Krankheit entsteht im Körper des Menschen und kann an seine Kinder weitergegeben werden.
unfruchtbar
Früher nannte man das Kind im Bauch der Frau eine Frucht. Wenn man kein Kind bekommen kann, ist man unfruchtbar.
Richter
Der Richter entscheidet bei einem Streit, wer etwas machen soll oder nicht machen darf. Man sagt: Er fällt ein Urteil. Zum Beispiel ob jemand unfruchtbar gemacht werden soll.
Alkoholiker
Der Mensch hat eine seelische Krankheit. Es geht ihm schlecht, wenn er keinen Alkohol trinken kann.
Akten
Alle Briefe, Arztberichte, Urteile werden in einer Mappe gesammelt. Das ist eine Akte.
Urteil
Das Gericht entscheidet. Zum Beispiel ob jemand unfruchtbar gemacht werden soll. Die Entscheidung heißt Urteil.
Konzentrations-Lager
Die Nazis sperrten viele Menschen ein. Sie mussten dann für die Nazis arbeiten. Es ging ihnen dort sehr schlecht. Sie bekamen nur wenig zu essen. Viele Menschen starben vor Hunger. Oder weil sie krank wurden. Wenn sie krank waren oder zu schwach wurden sie ermordet.
Sinti und Roma
Die Nazis sagten zu ihnen Zigeuner. Weil sie nicht immer am selben Ort gewohnt haben. Die Nazis haben viele von diesen Menschen ermordet.
Vergewaltigung
Jemand hat gegen den Willen des Menschen Sex mit ihm. Das ist Gewalt. Es ist nicht erlaubt.
Miss-Brauch
bedeutet sexuelle Gewalt gegen andere Menschen
Obdach-Lose
Manche Menschen haben keine Wohnung und kein Haus. Sie leben im Freien. Sie schlafen unter Brücken oder in Parks.
Eier-Stöcke
Frauen haben Eier-Stöcke als Geschlechts-Organe. Hier wachsen Eier. Aus ihnen können Kinder entstehen, wenn die Spermien des Mannes dazu kommen.
Ein-Spruch
Manche Menschen wehren sich gegen das Urteil. Sie sagen: Nein. Dann gibt es eine neue Verhandlung.
Verlobte
Zwei Menschen wollen heiraten. Wenn sie das bekannt geben, sind sie einander versprochen.
befördern
Man bekommt einen besseren Job. Zum Beispiel kann man mehr mitbestimmen. Und man bekommt mehr Geld.
Abtreibung
Eine Frau hat ein Baby im Bauch. Aber sie will oder darf es nicht bekommen. Dann wird das Baby aus dem Bauch entfernt. Es stirbt dabei.
Fehl-Geburt
Eine Frau hat ein Baby im Bauch. Es stirbt aber noch im Bauch der Frau. Es wird dann tot geboren.
asozial
Jemand benimmt sich anders als andere Menschen. Das finden die anderen Menschen nicht gut. Sie sagen: Du bist anders. Das darf nicht sein.
Marine
Soldaten, die auf dem Wasser eingesetzt werden, sind bei der Marine.
Entschädigung
Wieder-Gut-Machung zum Beispiel mit Geld
Armen-Haus
Hier wohnen Menschen, die sich keine eigene Wohnung leisten können.