In der Regel wurde der Antrag für eine Sterilisation durch den Lüneburger Amtsarzt Rohlfing bzw. bei Anstaltspatienten durch Ärzte der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg sowie durch Fürsorgerinnen und Pfleger gestellt. Unter allen 805 überlieferten Akten des Erbgesundheitsgerichtes und des Gesundheitsamtes Lüneburg gibt es nur bei zwölf Personen einen Hinweis auf eine Selbstanzeige. Dies entspricht einem Anteil von 1,4 Prozent. Zu 98,6 Prozent erfolgten die Anzeigen in der Regel ohne Initiative bzw. Zustimmung der Betroffenen.
Von den 805 überlieferten Gerichtsfällen wurden nachweislich mindestens 158, d. h. rund ein Fünftel der Anträge auf Unfruchtbarmachung, in der ersten Instanz abgelehnt. Die Angezeigten entgingen einer Sterilisation. Begründet wurden diese Beschlüsse meistens mit zu hohem Alter, einer zu »leichten Schwachsinnigkeit« oder einer nicht vorhandenen Erblichkeit der Erkrankung bzw. Behinderung. Insgesamt wurde in 187 Fällen gegen den Gerichtsbeschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichtes Einspruch eingelegt und wurde der Antrag auf Unfruchtbarmachung in der nächsthöheren Instanz am Erbgesundheitsobergericht Celle verhandelt. Diese Einsprüche gingen überwiegend von den Betroffenen selbst oder ihren Angehörigen aus und dienten der Abwendung einer Sterilisation. Nur 15 Einsprüche von Betroffenen und ihren Familien waren erfolgreich. 143 Einsprüche (76,5 Prozent) wurden nachweislich zurückgewiesen, bei den übrigen ist der Ausgang gemäß Aktenlage nicht eindeutig erkennbar.
Es gab weitere 15 Fälle, in denen der Amtsarzt Rohlfing Einspruch gegen die gerichtlich beschlossene Ablehnung einer Sterilisation einlegte und darauf beharrte, dass doch sterilisiert werde. In mehr als der Hälfte der Fälle (acht) war er erfolgreich, und die Ablehnung der Sterilisation wurde vom Erbgesundheitsobergericht Celle in eine Anordnung umgewandelt.
Von insgesamt 805 verhandelten Fällen wurden 156 Personen nicht sterilisiert, obwohl es in 30 dieser Fälle einen positiven Beschluss gab. Als Begründung wurden hier verschiedene Gründe angeführt, beispielsweise zu hohes Alter, eine akute psychische Krise oder etwaige Lebensgefahr während der Sterilisation. In einem Fall entging ein Betroffener durch Flucht der Sterilisation.
Zuerst gibt es einen Antrag beim Erb-Gesundheits-Gericht.
Den Antrag stellt oft ein Arzt.
Zum Beispiel ein Arzt vom Gesundheits-Amt.
Oder ein Arzt aus der Anstalt.
Auch Lehrer oder Erzieher oder Pfleger können einen Antrag stellen.
In dem Antrag steht:
Hier ist ein Mensch.
Dieser Mensch ist krank.
Oder sehr dumm.
Er kann nichts.
Der Mensch soll sterilisiert werden.
Damit er keine Kinder mehr bekommen kann.
Die Richter am Erb-Gesundheits-Gericht sollen dann bestimmen.
Ob jemand sterilisiert werden soll.
Manchmal sagen die Richter am Erb-Gesundheits-Gericht auch erst mal Nein zu dem Antrag.
Sie sagen:
Der Mensch ist zu alt.
Er kann sowieso keine Kinder mehr bekommen.
Oder der Mensch ist nicht sehr dumm.
Oder die Krankheit kann nicht an Kinder vererbt werden.
Dann wird der Antrag abgelehnt.
In Lüneburg wird jeder fünfte Antrag abgelehnt.
Diese Menschen werden nicht sterilisiert.
Alle anderen sollen operiert werden.
Das sagen die Lüneburger Richter am Erb-Gesundheits-Gericht.
Manche Menschen wehren sich gegen das Urteil.
Sie wollen nicht sterilisiert werden.
Sie legen Ein-Spruch ein.
Dann gibt es eine neue Verhandlung.
Vor dem Ober-Gericht in Celle.
Selten ist der Ein-Spruch erfolgreich.
Es gibt fast 200 Verhandlungen vor dem Ober-Gericht in Celle.
Nur 15mal sagt das Ober-Gericht in Celle:
Die Menschen haben Recht.
Sie sollen nicht operiert werden.
Meistens sagt das Ober-Gericht:
Die Menschen sollen sterilisiert werden.
Es gibt 805 Gerichts-Verhandlungen.
Vor dem Erb-Gesundheits-Gericht in Lüneburg.
Von den 805 Menschen werden nur etwa 150 nicht sterilisiert.
Mindestens über 750 Menschen werden sterilisiert.
Bei manchen wissen wir es heute nicht mehr ganz genau.
Weil nicht alles in den Akten steht.
Zwei Cousins und einer Halbcousine erging es ähnlich wie Thea Marienberg. Gegen Karl Marienberg, Sohn von Otto Marienbergs Bruder Gustav, wurde ein Sterilisationsverfahren eingeleitet als er Berta Habenicht heiraten wollte. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg, besetzt mit Stölting, Bräuner und Vosgerau, lehnte am 7. Juli 1938 eine Sterilisation von Karl Marienberg zunächst ab. Dagegen legte Rohlfing vom Lüneburger Gesundheitsamt erfolgreich Beschwerde ein. Das Erbgesundheitsobergericht beschloss am 25. Oktober 1938 die Unfruchtbarmachung von Karl Marienberg. Er wurde am 18. November 1938 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg operiert. Am 13. Juni 1941 starb er »nach langem, schweren Leiden« an Tuberkulose.
Sein Bruder Georg Marienberg wurde am 26. Juni 1938 beim Erbgesundheitsgericht Lüneburg angezeigt. Er wurde acht Wochen nach seinem Bruder Karl operiert. Dennoch lehnte das Gesundheitsamt Lüneburg zwei Jahre später seine Eheschließung ab. Er beschwerte sich daraufhin beim Reichsminister des Innern, der der Vermählung schließlich zustimmte.
Sechs Jahre nach Ende des Nationalsozialismus bemühte sich Georg Marienberg um Wiederaufnahme seiner Erbgesundheitssache und hoffte auf Entschädigung. In der Sitzung am 12. Oktober 1951 kamen Amtsgerichtsdirektor Jahn, der ab 1940 einer der Nachfolger von Stölting am Erbgesundheitsgericht Lüneburg war, sowie Medizinalrat Schaeper – der Nachfolger von Rohlfing beim Gesundheitsamt Lüneburg – zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des ehemaligen Erbgesundheitsgerichtes aufrechterhalten werde. Georg Marienberg starb am 7. April 1979 in Lauenburg. Er hinterließ keine Kinder.
Karl und Georg Marienberg
Thea hat zwei Cousins.
Karl und Georg Marienberg.
Es geht ihnen wie Thea.
Sie werden beide sterilisiert.
Karl möchte 1938 heiraten.
Er stellt einen Antrag beim Gesundheits-Amt.
Er braucht eine Erlaubnis.
Das Gesundheits-Amt sagt Nein.
Weil Karl aus der Familie Marienberg kommt.
Die Familie ist gegen die Nazis.
Erst sagt das Erb-Gesundheits-Gericht Lüneburg:
Karl soll nicht sterilisiert werden.
Aber ein Arzt vom Gesundheits-Amt beschwert sich.
Das Erb-Gesundheits-Gericht sagt dann doch:
Karl soll sterilisiert werden.
Am 18. November 1938 wird Karl operiert.
Im Lüneburger Kranken-Haus.
Am 13. Juni 1941 stirbt Karl.
Er hat eine schwere Lungen-Krankheit.
Karls Bruder Georg wird am 26. Juni 1938 angezeigt.
Beim Erb-Gesundheits-Gericht Lüneburg.
8 Wochen nach Karl wird Georg operiert.
2 Jahre später will Georg heiraten.
Das Gesundheits-Amt sagt Nein.
Georg beschwert sich.
Er darf dann doch heiraten.
Aber er kann keine Kinder mehr bekommen.
1951 ist der Krieg sechs Jahre vorbei.
Die Nazis bestimmen nicht mehr.
Georg geht vor Gericht.
Er möchte Schmerzens-Geld.
Und eine Entschuldigung.
Er möchte sein Recht.
Aber das bekommt er nicht.
Es gibt eine Gerichts-Verhandlung.
Der Richter ist Dr. Jahn.
Der war auch schon Richter bei den Nazis.
Er war auch Richter am Erb-Gesundheits-Gericht Lüneburg.
Ein Arzt macht eine Aussage.
Der Arzt ist beim Gesundheits-Amt.
Das war er auch schon bei den Nazis.
Der Richter und der Arzt sagen:
Das Urteil gegen Georg war richtig.
Die Sterilisation war richtig.
Georg Marienberg bekommt sein Recht nicht.
Er bekommt kein Geld.
Und keine Entschuldigung.
Georg stirbt am 7. April 1979.
Er hat keine Kinder.
wurden oft Portraits der Betroffenen beigefügt.
In diesem Fall wurden sogar Fotos der Verlobten angefertigt, obwohl sie selbst nicht sterilisiert werden sollte.
Fotos von Berta Habenicht und Karl Marienberg aus der Sterilisationsakte von Karl Marienberg.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.
Das sind Fotos von Berta und Karl.
Sie wollen 1938 heiraten.
Aber dann wird Karl angezeigt.
Die Fotos sind in Karls Gerichts-Akte.
Vom Erb-Gesundheits-Gericht.
Das Foto von Berta gehört eigentlich nicht in die Akte.
Berta soll ja gar nicht unfruchtbar gemacht werden.
aus seiner Sterilisationsakte.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist ein Foto von Georg Marienberg.
Das Foto ist in Georgs Gerichts-Akte.
des Gesundheitsamtes Lüneburg gehört zu den wenigen, die eine bereits gerichtlich abgelehnte Sterilisation umwandelte und zur Unfruchtbarmachung von Karl Marienberg führte. Erst danach wurde eine Ehetauglichkeit bescheinigt und durften Berta Habenicht und Karl Marienberg beim Standesamt ein Aufgebot bestellen.
Beschwerde des Gesundheitsamtes Lüneburg über Beschluss zu Karl Marienberg vom 27.7.1937.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.
Das ist ein Brief vom Gesundheits-Amt.
Von dem Amts-Arzt.
Er beschwert sich.
Er findet die Entscheidung des Erb-Gesundheits-Gericht Lüneburg nicht gut.
Das Erb-Gesundheits-Gericht sagt nämlich:
Karl Marienberg soll nicht sterilisiert werden.
In dem Brief vom Amts-Arzt steht:
Karl ist sehr dumm.
Er war auf einer Hilfs-Schule.
Er kann kaum rechnen.
Die ganze Familie ist dumm und erb-krank.
Auch Karls Verlobte ist dumm und erb-krank.
Karl Marienberg und seine Verlobte sollen keine Kinder bekommen.
Karl soll sterilisiert werden.
sterilisiert war, wurde die Eheschließung mit Else Wünnecke abgelehnt. Das Gesundheitsamt Lüneburg begründete die Ablehnung damit, dass bei Georg Marienberg eine sogenannte Erbkrankheit vorliegen müsse und somit gemäß §1 (d) des »Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« ein Ehehindernis bestünde.
Bescheinigung des Gesundheitsamtes Lüneburg für Georg Marienberg vom 17.8.1940. NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist eine Bescheinigung.
Vom Gesundheits-Amt Lüneburg.
Darin steht:
Georg Marienberg darf nicht heiraten.
Obwohl Georg unfruchtbar ist.
Der Amts-Arzt sagt:
Menschen wie Georg können nichts.
Sie sind nichts wert.
Deswegen schaden sie Deutsch-Land.
Deshalb dürfen sie nicht heiraten.
an das Reichsinnenministerium nach §6 des »Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« war es möglich, eine Befreiung vom Ehegesundheitsgesetz zu erwirken.
Schreiben des Reichsministers des Inneren über die beabsichtigte Eheschließung von Georg Marienberg vom 20.1.1941.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist eine Bescheinigung.
Vom Gesundheits-Amt Lüneburg.
Darin steht:
Georg Marienberg darf nicht heiraten.
Obwohl Georg unfruchtbar ist.
Der Amts-Arzt sagt:
Menschen wie Georg können nichts.
Sie sind nichts wert.
Deswegen schaden sie Deutsch-Land.
Deshalb dürfen sie nicht heiraten.