Geschichte Raum geben

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Aus den Unterlagen des Gesundheitsamtes und des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg geht hervor, dass sich 7,5 Prozent der durch Sterilisation Geschädigten in den Jahren von 1948 bis 1960 um Entschädigung bemühten. Mindestens 33 der insgesamt 43 Betroffenen waren aufgrund der Diagnose »angeborener Schwachsinn«, zwei wegen »manisch-depressivem Irresein«, drei wegen angeblichem Alkoholismus und einer aufgrund von Schizophrenie sterilisiert worden.

In den Akten sind nur zwei Fälle überliefert, in denen die Urteile des Erbgesundheitsgerichtes Lüneburg aufgehoben wurden. Zur Genehmigung einer Entschädigung musste ein fachärztliches Zeugnis erbracht werden, in dem durch die Sterilisation begründete Gesundheitseinbußen von mindestens 25 Prozent nachgewiesen werden mussten.

Am häufigsten wurde Anfang der 1950er-Jahre ein Antrag auf Entschädigung gestellt. Insgesamt klagten 27 Frauen und 16 Männer auf ihr Recht, unter ihnen auch die beiden Lüneburger Sinti Paul Albert Weiß und Albert Münzer, die lediglich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti und Roma zwangssterilisiert worden waren.

Viele Zwangssterilisierte versuchten über eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen und beantragten eine Rückoperation. Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem dies gelang.

1945 verliert Deutsch-Land den Krieg.
Die Nazis bestimmen jetzt nicht mehr in Deutsch-Land.
Manche Opfer der Nazis wollen jetzt eine Entschädigung.
Sie wollen Schmerzens-Geld.
Sie wollen auch ein neues Gerichts-Urteil.
Da soll stehen:
Das Urteil der Nazis war falsch.
Es war unrecht.

43 Menschen beschweren sich in den Jahren zwischen 1948 und 1960.
Sie klagen vor dem Gericht in Lüneburg.
Sie sind vom Erb-Gesundheits-Gericht in Lüneburg verurteilt worden.
Sie wurden zwangs-sterilisiert.
Sie wollten das nicht.
Sie sagen nun:
Wir wollen eine Entschädigung.
Und ein neues Urteil.

Aber sie bekommen wieder kein Recht.
Die Menschen sollen beweisen:
Wir sind krank von der Operation.
Das können die Meisten nicht.
Nur 2 Menschen bekommen Recht.
Es wird gesagt:
Was ihnen passiert ist war falsch.
Das Urteil wird aufgehoben.
Alle anderen bekommen nicht ihr Recht.
Sie bekommen kein Geld.
Und sie bekommen keine Entschuldigung.
Sie werden auch nicht mehr neu operiert.
Nichts wird rückgängig gemacht.

Emmi Nielson

  • Biografie
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Emmi Nielson wurde am 5. Dezember 1921 geboren. Sie war die Halbschwester von Karl und Georg Marienberg. Am 7. April 1938 brachte Emmi ihr erstes Kind zur Welt. Es starb. Drei Jahre später, am 12. Mai 1941 wurde ihr zweites Kind Peter Nielson geboren. Kurz nach der Entbindung stellte die Lüneburger Hilfsschule eine Anzeige für eine Sterilisation mit der Begründung, Emmi Nielson sei undiszipliniert, könne keine Berufsschule besuchen und sei mit ihrem Kind überfordert.

Am 11. November 1941 beschloss das Gericht, Emmi Nielson in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zu beobachten. Von 24. Februar bis 4. März 1942 musste sie die gleiche Untersuchung über sich ergehen lassen wie ihre Cousine Thea Marienberg. Nachdem das psychiatrische Gutachten mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn« vorlag, beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg am 14. April 1942 ihre Sterilisation.
Geübt im Beschweren, legte Emmi Nielson am 6. Mai 1942 Einspruch ein. Dieser wurde jedoch mit Gerichtsbeschluss des Erbgesundheitsobergerichtes in Celle am 1. Juni 1942 zurückgewiesen. Weil Emmi Nielson im weiteren Verlauf untertauchte und nicht zu der angesetzten Operation erschien, wurde sie sodann polizeilich gesucht. Am 15. September 1942 wurde sie von der Polizei aufgegriffen und im Lüneburger Gerichtsgefängnis untergebracht. Wegen »Arbeitsvertragsbruch« wurde sie zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Am 13. November 1942 trat sie die Haftstrafe im Frauenjugendgefängnis Vechta an, wohin sie von Lüneburg aus überwiesen worden war.

Am 15. März 1943, am Tag ihrer Haftentlassung, wurde Emmi Nielson direkt in das Friedrich-Ludwig-Hospital Oldenburg eingewiesen und dort gegen ihren Willen zwangssterilisiert.

Wie ich Halbbruder Georg Marienberg stellte auch Emmi 1951 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, um eine Entschädigung zu erhalten und ihr widerfahrenes Unrecht wiedergutzumachen. Mit Beschluss vom 25. Mai 1951 folgte das Lüneburger Amtsgericht der Argumentation des Beschlusses des Erbgesundheitsgerichtes und lehnte auch in ihrem Fall die Wiederaufnahme des Verfahrens ab.

Emmi Nielson ist eine Halb-Schwester von Karl und Georg.
Emmi wird auch angezeigt.
Beim Erb-Gesundheits-Gericht in Lüneburg.
Weil sie zur Familie Marienberg gehört.

Das Gericht sagt am 14. April 1942:
Emmi Nielson soll sterilisiert werden.
Emmi will das nicht.
Sie beschwert sich.
Aber ihre Beschwerde hat keinen Erfolg.

Sie bekommt einen Termin im Kranken-Haus.
Aber sie geht einfach nicht hin.
Damit verstößt sie gegen das Gerichts-Urteil.
Deswegen wird sie von der Polizei gesucht.


Emmi versteckt sich.
Weil sie nicht operiert werden will.
Aber die Polizei findet sie.
Sie bekommt eine Haft-Strafe.
Sie muss 6 Monate ins Gefängnis.
Weil sie nicht unfruchtbar gemacht werden will.

Nach 6 Monaten wird sie aus dem Gefängnis entlassen.
Am gleichen Tag wird sie operiert.
Man holt sie im Gefängnis ab.
Man bringt sie direkt ins Kranken-Haus.
Damit sie sich kein zweites Mal versteckt.
Deshalb wird Emmi am 15. März 1943 operiert.
Gegen ihren Willen.

1951 ist der Krieg 6 Jahre vorbei.
Die Nazis haben keine Macht mehr.
Deswegen geht Emmi vor Gericht.
Wie ihr Halb-Bruder Georg.
Sie will auch eine Entschuldigung.
Und Schmerzens-Geld.
Wieder ist der Richter Dr. Jahn.
Der gleiche Richter wie bei Georg.
Auch Emmi Nielson bekommt kein Recht.
Sie bekommt kein Schmerzens-Geld.
Die Sterilisation wird nicht rückgängig gemacht.
Sie bekommt keine Entschuldigung.

Schreiben des Gesundheitsamtes

Lüneburg an das Erbgesundheitsgericht Lüneburg vom 10.9.1942.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 2472.

Nur ganz wenige Urteile wurden geändert.
Meistens entschied das Ober-Gericht genauso wie das Gericht in Lüneburg.
Das ist ein Urteil des Ober-Gerichtes.
Es ist das Urteil zu Thea Marienberg.
Darin steht:
Das Gericht in Lüneburg hat recht.
Thea darf unfruchtbar gemacht werden.
Das Urteil ist vom 16. Juli 1940.
Danach wurde Thea operiert.

  • Danksagung
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Grundlage dieser Ausstellung ist die Erfassung der Dokumente durch zehn Studierende des Historischen Seminars der Leibniz Universität Hannover im Wintersemester 2014/2015 unter der Leitung von Dr. Anton Weise. Ihnen sei dafür gedankt.

Die Ausstellung wurde mit Hilfe von 78 Lüneburger Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern des 2. Ausbildungsjahrgangs erarbeitet. Ihnen sei für ihre Unterstützung namentlich (in alphabetischer Reihenfolge) gedankt:

Paula Albert, Diana Bachmann, Marie Baranowski, Saskia Berg, Stephanie Bernecker, Jannika Bickhardt, Vanessa Blank, Leonie Blanke, Esther Klara Boller, Sabina Bruhn, Nele-Katharina Conrath, Anna Dongowski, Michelle Dzionara, Tessa Engel, Vivian-Patricia Enke, Tobias Freischmidt, Vanessa Fritsche, Dariah Gaida, Lena Gemke, Frida Geppert, Nico Goldmann, Sevinyo Ruslan Goman, Karin Grüll, Tabea Marlene Gruß, Merle Harnecker, Merle Hartfuss, Jennifer Hehne, Tom Heincken, Pascal Heschel, Angelika Hetzel, Anna-Lena Hintze, Polina Holosna, Sandrina Hölzner, Tony Homberger, Shirley Iyke-Noble, Janek Janowski, Leonie Jasper, Rodi Jelebi, Marie John, Jana Kim Junge, Christin Junghans, Sezen Asena Kanat, Anna Köchy, Franziska König, Hannah Körber, Rebecca Kröger, Alica-Maria Lange, Sofia Lange, Kaya Maas, Maya Marie Marks, Fiona Marquardt, Natalie Matschke, Laura Meyer, Katharina Neelmeier, Pia Neumann, Julia Neumann, Lisa Niederhaus, Philipp Otto, David Patzak, Julien Petruschke, Carina Pniok, Saskia Quelle-Woldmann, Sitraka Rabarijaona, Elena Racolta, Tahina Rakotoarisoa, Kristin Rempe, Louisa Rieger, Ihnke Rieken, Ilka Sader, Eicke Schönberg, Vanessa Schoppmeyer, Inna Schröder, Inken Schulze, Lilly Schweer, Dustin Siergeij, Eike Simon, Igor Skutin, Celina Splinter, Lilly Ann Stöber, Svea Strötges, Johanna Stüber, Caren Svanström, Armia Taranis, Rilana Trobisch, Jan Waitzmann, Viktoria Weigel, Dr. Anton Weise, Janina Wellmann, Manuela Will.

Für die Realisierung der Ausstellung dankt die »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg e.V. dem Niedersächsischen Landesarchiv für die Genehmigung der Veröffentlichung der Dokumente, den beiden Lüneburger Krankenpflegeschulen für die enge Kooperation, Thomas Laukat (Grafiker) und Angela Wilhelm (Lektorat).

Dank geht an die Angehörigen, die durch eigene Recherchen und die Bereitstellung von Fotos. Dokumenten und Informationen zur Klärung des Schicksals beigetragen haben.

Kuratorin: Dr. Carola S. Rudnick, »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg

78 Pflege-Schülerinnen und Schüler haben bei dieser Ausstellung geholfen.
Sie kommen aus Lüneburg.
Für ihre Hilfe sagen wir:
Danke.

Wir danken den Familien-Angehörigen der Opfer.
Sie geben uns Fotos, Briefe und andere Informationen.
Sie sagen:
Ihr dürft die Geschichte unserer Familien-Angehörigen erzählen.

Wir danken auch allen anderen Helfern.

Die Sonderausstellung wurde gefördert von der Sparkassenstiftung Lüneburg, von der DRK-Augusta-Schwesternschaft e.V. Lüneburg, durch das Städtische Klinikum Lüneburg sowie durch Landesmittel der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Zusatzmaterial

Rassen
Menschen werden in Gruppen eingeteilt. Zum Beispiel weil sie eine andere Hautfarbe haben. Oder eine andere Augenform. Eigentlich sind aber alle Menschen gleich.
Eugenik
Die guten Rassen und gesunden Menschen sollen sich vermehren. Nur sie sollen Kinder bekommen. Die schlechten Rassen und die kranken Menschen sollen keine Kinder bekommen. Sie sollen aussterben. Das nennt man Eugenik. Oder Rassen-Hygiene.
Sterilisation
bedeutet unfruchtbar machen
Nach der Operation kann der Mensch keine Kinder mehr bekommen.
Zwangs-Sterilisation
Die Menschen werden nicht gefragt, ob sie unfruchtbar gemacht werden wollen. Jemand Anderes entscheidet das.
Erb-Krankheit
Die Krankheit entsteht im Körper des Menschen und kann an seine Kinder weitergegeben werden.
unfruchtbar
Früher nannte man das Kind im Bauch der Frau eine Frucht. Wenn man kein Kind bekommen kann, ist man unfruchtbar.
Richter
Der Richter entscheidet bei einem Streit, wer etwas machen soll oder nicht machen darf. Man sagt: Er fällt ein Urteil. Zum Beispiel ob jemand unfruchtbar gemacht werden soll.
Alkoholiker
Der Mensch hat eine seelische Krankheit. Es geht ihm schlecht, wenn er keinen Alkohol trinken kann.
Akten
Alle Briefe, Arztberichte, Urteile werden in einer Mappe gesammelt. Das ist eine Akte.
Urteil
Das Gericht entscheidet. Zum Beispiel ob jemand unfruchtbar gemacht werden soll. Die Entscheidung heißt Urteil.
Konzentrations-Lager
Die Nazis sperrten viele Menschen ein. Sie mussten dann für die Nazis arbeiten. Es ging ihnen dort sehr schlecht. Sie bekamen nur wenig zu essen. Viele Menschen starben vor Hunger. Oder weil sie krank wurden. Wenn sie krank waren oder zu schwach wurden sie ermordet.
Sinti und Roma
Die Nazis sagten zu ihnen Zigeuner. Weil sie nicht immer am selben Ort gewohnt haben. Die Nazis haben viele von diesen Menschen ermordet.
Vergewaltigung
Jemand hat gegen den Willen des Menschen Sex mit ihm. Das ist Gewalt. Es ist nicht erlaubt.
Miss-Brauch
bedeutet sexuelle Gewalt gegen andere Menschen
Obdach-Lose
Manche Menschen haben keine Wohnung und kein Haus. Sie leben im Freien. Sie schlafen unter Brücken oder in Parks.
Eier-Stöcke
Frauen haben Eier-Stöcke als Geschlechts-Organe. Hier wachsen Eier. Aus ihnen können Kinder entstehen, wenn die Spermien des Mannes dazu kommen.
Ein-Spruch
Manche Menschen wehren sich gegen das Urteil. Sie sagen: Nein. Dann gibt es eine neue Verhandlung.
Verlobte
Zwei Menschen wollen heiraten. Wenn sie das bekannt geben, sind sie einander versprochen.
befördern
Man bekommt einen besseren Job. Zum Beispiel kann man mehr mitbestimmen. Und man bekommt mehr Geld.
Abtreibung
Eine Frau hat ein Baby im Bauch. Aber sie will oder darf es nicht bekommen. Dann wird das Baby aus dem Bauch entfernt. Es stirbt dabei.
Fehl-Geburt
Eine Frau hat ein Baby im Bauch. Es stirbt aber noch im Bauch der Frau. Es wird dann tot geboren.
asozial
Jemand benimmt sich anders als andere Menschen. Das finden die anderen Menschen nicht gut. Sie sagen: Du bist anders. Das darf nicht sein.
Marine
Soldaten, die auf dem Wasser eingesetzt werden, sind bei der Marine.
Entschädigung
Wieder-Gut-Machung zum Beispiel mit Geld
Armen-Haus
Hier wohnen Menschen, die sich keine eigene Wohnung leisten können.