Geschichte Raum geben

Geschwister

Aufarbeitung. Forschung. Erinnerung.

  • Einleitung
  • Leichte Sprache
  • Audio

Diese Sonderausstellung gibt den noch lebenden Geschwistern von »Euthanasie«-Opfern eine Stimme. Ihre Erinnerungen prägen, was wir heute über die Opfer der »Kinder-Euthanasie« wissen. Durch ihre Erzählungen ist es möglich, diese besonderen Lebensgeschichten auch aus einer persönlichen Perspektive zu dokumentieren.

Geschwister gehören aber auch selbst zu den Opfern rassenhygienischer Verfolgung. Nicht selten wurden mehrere Geschwister einer Familie zwangssterilisiert, in die NS-Psychiatrie eingewiesen, entrechtet und schließlich ermordet. Oft waren sie Zeuge dessen, waren dabei, wenn ihre Brüder und Schwestern gequält und getötet wurden. Mit den an ihnen verübten Verbrechen endeten Familienstammbäume.

Geschwister gehören zu den einzigen Menschen einer Familien-Generation, zu denen eine lebenslange und über den Tod hinausgehende Bindung besteht. Häufig stehen Geschwister von Erkrankten und Menschen mit Behinderung auch im Schatten ihrer hilfs- und fürsorgebedürftigen Brüder und Schwestern. Ihre Entwicklung und ihr Dasein sind vom Alltag des Lebens mit Behinderung geprägt, teilweise ein Leben lang.

Deshalb ist diese Sonderausstellung allen Geschwistern gewidmet, die damals und heute mit Brüdern oder Schwestern mit Erkrankung oder Behinderung leben.

Viele Menschen werden in der Nazi-Zeit ermordet.
Weil sie krank sind. Oder eine Behinderung haben.
Auch viele Kinder.
Viele dieser Kinder haben Geschwister.
Viele Geschwister leben heute noch.
Diese Geschwister erzählen uns:
Von ihrem Bruder oder ihrer Schwester.
Darum wissen wir viel über diese Kinder.
In dieser Ausstellung erzählen wir ihre Geschichte.

Die Nazis verfolgen oft mehrere Geschwister aus einer Familie.
Manche werden zwangs-sterilisiert.
Das heißt: Sie werden un-frucht-bar gemacht.
Sie können dann keine eigenen Kinder mehr bekommen.
Obwohl sie das nicht wollen.
Manche kommen in eine Anstalt.
Viele Menschen werden dort ermordet.
Die Geschwister sehen:
Meinem Bruder oder meiner Schwester geht es dort schlecht.
Manche sind dabei, wenn ihre Geschwister sterben.

Geschwister gehören zu einer Familie.
In einer Familie gehört man immer zusammen.
Auch noch nach dem Tod.
Manche Menschen haben Geschwister mit einer Krankheit.
Oder mit einer Behinderung.
Alle in der Familie kümmern sich um das Kind.
Alle wissen: Das Kind hat eine Behinderung.
Ihr ganzes Leben lang.
Diese Sonder-Ausstellung denkt an diese Menschen.
Die Geschwister haben mit einer Krankheit.
Oder einer Behinderung.
Damals und heute.

  • Geschwister
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Etwa 50 Prozent der Angehörigen, die Kontakt zur »Euthanasie«- Gedenkstätte Lüneburg aufnehmen, sind Brüder und Schwestern von »Euthanasie«-Opfern. Sie wissen meist nicht, was ihrem Geschwisterkind widerfahren ist und erfahren es von den Gedenkstätten-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Mit der Klärung des Schicksals endet oft eine jahrzehntelange Suche nach dem Bruder bzw. der Schwester.

Viele Menschen fragen die Gedenk-Stätte.
Nach ihren Geschwistern.
Sie wollen wissen:
Was ist mit meinem Bruder oder meiner Schwester passiert?
Viele bekommen eine Antwort.
Nach vielen Jahren.

  • Leben in der Familie
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Damals wie heute ist der Alltag mit einem Geschwisterkind mit Behinderung geprägt von der besonderen Situation, von Herausforderungen und einem hohen Maß an Verantwortung.

Die Geschwister des Kindes mit Behinderung müssen schnell selbstständig werden, ordnen ihre Wünsche und Bedürfnisse unter und übernehmen als »pflegende Kinder« Aufgaben, die nicht alters– und rollengemäß sind. Das betraf auch Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus, die Geschwister von Kindern mit Behinderungen waren.

Zu Hause kümmerten sich Brüder und Schwestern um diese Kinder. Sie spielten mit ihnen, versorgten und betreuten sie, gaben ihnen zu essen. Sie teilten das gemeinsame Zuhause, halfen im Alltag und beschäftigten das Geschwisterkind mit Behinderung, zumal es in der Regel weder einen Kindergarten noch eine Schule besuchte.

In einer Familie müssen alle helfen.
Viele Kinder kümmern sich um ihre kranken Geschwister.
Das war auch früher so.
In der Nazi-Zeit gibt es für Kinder mit Behinderungen keine Schule.
Und keinen Kinder-Garten.
Nur die Familie kümmert sich um Kinder mit einer Behinderung.
Die Eltern und die Geschwister.

Ingeborg

saß oft in der Küche in einem Stühlchen. Sie wurde von ihrer jüngeren Schwester Renate gefüttert. Einmal biss sie ihrer Schwester dabei in den Finger und lachte vor Schadenfreude. »Dumm war sie nicht«, erinnert sich Renate Beier.

Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Ingeborg sitzt oft in der Küche.
In einem kleinen Stuhl.
Ihre Schwester Renate füttert sie.
Einmal beißt Ingeborg ihrer Schwester in den Finger.
Dann lacht Ingeborg.
Renate sagt: Ingeborg war nicht dumm.

Friedrich, Rolf und Heinz Schäfer

teilten sich im Elternhaus in Bovenden bei Göttingen ein Kinderzimmer. Am Nachmittag trugen sie Heinz überall mit hin oder fuhren ihn in einem Wägelchen. »Er war immer dabei«, berichten die Brüder und die Cousine. Es gab einen Garten, in dem sich die Kinder oft aufhielten. Dort war auch ein Gartenhäuschen, in dem sie manchmal Kuchen aßen. Heinz wurde in dem Garten in einem Wägelchen hin und her geschoben, damit er an die frische Luft kam.

Rolf mit seinem Bruder Heinz Schäfer auf dem Arm. Der Bruder Friedrich ist nicht auf dem Bild, denn er macht das Foto, ca. Sommer 1941.

Privatbesitz Rolf Schäfer.

Friedrich, Rolf und Heinz sind Brüder.
Sie teilen sich ein Kinder-Zimmer.
Heinz kann nicht laufen.
Friedrich und Rolf schieben Heinz in einem kleinen Wagen.
Sie nehmen ihn immer mit.
Die Kinder sind oft in einem Garten.
Heinz ist immer dabei.
Friedrich macht gerne Fotos.
Auf dem Foto sieht man Heinz und Rolf.
Rolf hat Heinz auf dem Arm.