Geschichte Raum geben

Geschwister

als Opfer der »Zwangssterilisation«
und »Erwachsenen-Euthanasie«

Einleitung

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Viele Geschwister wurden Opfer der Zwangssterilisation. Es gibt auch Geschwister, die sowohl zwangssterilisiert als auch ermordet wurden. Noch steht die genaue Anzahl aller Betroffenen nicht fest.

Bei den bisher nachgewiesenen mehr als 800 Sterilisationen ist mit einem hohen Anteil von Geschwistern zu rechnen, da die Rassenhygiene diesbezüglich intensiv angewandt wurde. Beispiele hierfür sind:

 

Georg Marienberg (25.6.1910 – 7.4.1979)
Karl Marienberg (5.2.1913 – 13.6.1941)
Emmi Nielson (5.12.1921 – ?)

Marie Wege, geb. Saul (13.12.1901 – 19.2.1943)
Wilhelm Saul (16.1.1906 – 1976)

Dora Richteweg, geb. Münzer (30.12.1899 – ?)
Ferdinand Münzer (22.5.1906 – 24.10.1955)

Albert Münzer (4.1.1909 – ?) (operiert am 25.10.1937)

Frieda Gras, geb. Münzer (10.3.1911 – ?)

Viele Geschwister werden zwangs-sterilisiert.
Das heißt: Sie werden un-frucht-bar gemacht.
Sie können dann keine Kinder mehr bekommen.
Manche werden dann später auch noch ermordet.

Mindestens 800 Menschen aus Lüneburg werden zwangs-sterilisiert.
Darunter sind viele Geschwister.
Die Nazis unter-suchen immer die ganze Familie.
Wenn einer aus der Familie krank ist.
Beispiele für Geschwister sind:

Georg Marienberg (25.6.1910 – 7.4.1979) 

Karl Marienberg (5.2.1913 – 13.6.1941)

Emmi Nielson (5.12.1921 – ?)
Marie Wege, geb. Saul (13.12.1901 – 19.2.1943) 

Wilhelm Saul (16.1.1906 – 1976)
Dora Richteweg, geb. Münzer (30.12.1899 – ?) 

Ferdinand Münzer (22.5.1906 – 24.10.1955) 

Albert Münzer (4.1.1909 – ?) 

Frieda Gras, geb. Münzer (10.3.1911 – ?)

Die Brüder Karl und Georg

Marienberg wurden beide 1938 sterilisiert. Hauptgrund war ihre politische Haltung. Als Kommunisten galten sie als »sozial schwachsinnig«. Ihre Halbschwester Emmi Nielson wurde 1943 Opfer der Zwangssterilisation, genauso wie ihre gemeinsame Cousine Thea Marienberg.

Foto von Karl Marienberg, 1938.
Foto von Georg Marienberg, 1938. 


NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 10/88 Nr. 1298, Nr. 1324.

Das sind Fotos.
Sie sind von Karl und Georg.
Beide sind Opfer der Zwangs-Sterilisation.
Die Fotos sind von 1938.

Sterilisation

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Die gesamte Familie Münzer geriet ins Visier der Rassenhygiene. Von insgesamt neun Geschwistern wurden vier gegen ihren Willen sterilisiert. Maßgeblich war nicht nur ein Romno-Hintergrund, sondern auch, dass es uneheliche Kinder und Vorstrafen gab. Außer dem Gesundheitsamt hatte auch die Jugendfürsorge großen Einfluss auf die Verfolgung der Familie Münzer.

Mit der Begründung

»Die Bürger der Stadt verdienen Schutz vor solch einem Gesindel« 

wurde eine Umsiedlung in das Lüneburger Baracken-Lager für Sinti und Roma empfohlen. Das Lager wurde 1943 geräumt. Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

Die meisten überlebten das Vernichtungslager nicht. Horst Münzer, der Sohn des Geschwisters Albert Münzer, wurde 1942 in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg ermordet.

Die ganze Familie Münzer wird von den Nazis verfolgt.
Von 9 Geschwistern werden 4 operiert.
Sie werden un-frucht-bar gemacht.
Die Familie gehört zu den Roma.
Die Roma sind eine Volks-Gruppe.
Die Roma werden von den Nazis verfolgt.
In der Familie Münzer gibt es noch andere Gründe für eine Verfolgung.
Manche aus der Familie waren im Gefängnis.
Manche haben un-eheliche Kinder.
Die Nazis sagen:
Die Familie Münzer ist asozial.
Sie sollen in ein Lager.
Viele kommen später in ein Vernichtungs-Lager.
Die meisten aus der Familie werden dort ermordet.
Ein Kind wird in der »Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg ermordet.
Es ist Horst.

Auszug

aus dem Ärztlichen Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts Lüneburg über Ferdinand Münzer, 30.10.1936. 


NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1223.

Das ist ein Arzt-Brief vom 30.10.1936
Vom Gesundheits-Amt Lüneburg.
Über Ferdinand.

Frieda Gras,

geb. Münzer, war die Vorletzte der Münzer-Geschwister, die zwangssterilisiert wurde. Neun Tage später wurde ihr Bruder Friedrich unfruchtbar gemacht.

Auszug aus dem Ärztlichen Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts Lüneburg über Frieda Gras.


NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1223.

Frieda wird zwangs-sterilisiert.
Als dritte von vier Geschwistern.
Neun Tage später wird ihr Bruder Friedrich zwang-sterilisiert.

Aus Arzt-Brief vom 20.12.1937 über Frieda.

Wilhelm Saul jun.

wurde am 18.4.1940 nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisiert. Er steht in der Mitte hinter seinen Eltern Wilhelmine und Wilhelm Saul sen., rechts im Bild auf dem Stuhl sitzt seine Schwester Marie, ca. 1925. Das Bild entstand anlässlich der Silberhochzeit der Eltern. 


Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Wilhelm wird am 18.4.1940 zwangs-sterilisiert.
Wilhelm steht in der Mitte.
Davor sitzen die Eltern.
Die Eltern haben Silber-Hochzeit.
Sie sind 25 Jahre verheiratet.
Rechts auf dem Stuhl sitzt Wilhelms Schwester Marie.

Wilhelms Schwester Marie

wurde bereits zwei Jahre vor seiner Sterilisation erbbiologisch untersucht und erfasst. Auslöser war ein Antrag auf Kinderbeihilfe. Einem ersten, viermonatigen Anstaltsaufenthalt im Jahr 1928 folgte 1943 ein zweiter, den Marie nicht überlebte. Wilhelm Saul jun. liegt auf dem Heuwagen, davor stehen Marie und Emma, ca. 1927. Der elterliche Hof in Scharnebeck ist noch immer im Familienbesitz.


Privatbesitz Lisa Michaelis.

Wilhelms Schwester Marie ist 1928 vier Monate in der Anstalt.
Später heiratet sie.
Sie bekommt Kinder.
Die Familie stellt 1938 einen Antrag auf Kinder-Bei-Hilfe.
Darum wird Marie wieder unter-sucht.
1943 kommt Marie wieder in die Anstalt.
Dort stirbt sie.

Wilhelm liegt auf dem Heu-Wagen.
Davor stehen seine Schwestern Marie und Emma, ca. 1927.
Der Hof in Scharnebeck gehört immer noch der Familie.

Erwachsene

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Dreizehn Geschwister aus mindestens sechs Familien wurden Opfer der »Aktion T4« und der »dezentralen Euthanasie«. Sie wurden im Frühjahr 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar bzw. zwischen 1943 und 1945 in der Tötungsanstalt Pfafferode ermordet. Auch in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt kam es zwischen 1944 und 1945 zu Hungersterben. Getötet wurden:

Anna Schwarz, geb. Ahrens (15.9.1889 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Margarete Betz, geb. Ahrens (23.1.1906 – 2.5.1944) (Pfafferode)

Gertrud Glass (10.8.1916 – 14.5.1945) (Pfafferode)

Herbert Glass (4.9.1919 – 15.5.1944) (Pfafferode)

Gerhard Glass (25.3.1921 – 7.3.1944) (Pfafferode)

August Golla (4.9.1911 – 7.3.1941) (»Aktion T4«)

Anna Golla (17.12.1918 – 11.10.1944) (Pfafferode)

Hans Karl Paul Pohlmann (14.11.1899 - 4.5.1942)
Oskar Rudolf Walter Pohlmann (24.10.1903 - 21.5. 1941) (»Aktion T4«)

Heinrich Schwamberger (27.12.1885 – 21.5.1941) (»Aktion T4«)

Peter Schwamberger (24.11.1895 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Hermine Veersmann (24.3.1890 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Adolf Veersmann (14.9.1897 – 7.3.1941) (»Aktion T4«):

(13) Drei-zehn erwachsene Geschwister werden ermordet.
Sie kommen aus 6 Familien.
Manche werden in der Tötungs-Anstalt Hadamar mit Gas ermordet.
Hadamar ist eine Stadt in Hessen.
Das Töten in Hadamar heißt: »Aktion T4«.
Die Morde passieren im Früh-Jahr 1941.

Manche sterben in der Anstalt Pfafferode.
Weil sie nicht genug zu essen bekommen.
Das passiert zwischen 1943 und 1945.

Es sind:

Anna Schwarz, geb. Ahrens (15.9.1889 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Margarete Betz, geb. Ahrens (23.1.1906 – 2.5.1944) (Pfafferode)

Gertrud Glass (10.8.1916 – 14.5.1945) (Pfafferode)

Herbert Glass (4.9.1919 – 15.5.1944) (Pfafferode)

Gerhard Glass (25.3.1921 – 7.3.1944) (Pfafferode)

August Golla (4.9.1911 – 7.3.1941) (»Aktion T4«)

Anna Golla (17.12.1918 – 11.10.1944) (Pfafferode)

Hans Karl Paul Pohlmann (14.11.1899 - 4.5.1942)
Oskar Rudolf Walter Pohlmann (24.10.1903 - 7./8.3.1941)

Heinrich Schwamberger (27.12.1885 – 21.5.1941) (»Aktion T4«)

Peter Schwamberger (24.11.1895 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Hermine Veersmann (24.3.1890 – 28.5.1941) (»Aktion T4«)

Adolf Veersmann (14.9.1897 – 7.3.1941) (»Aktion T4«):

Über das Schicksal

von August Golla wurde in der Familie gar nicht und über seine Schwester Anna kaum gesprochen. Als Kind bei den Großeltern habe man aufgeschnappt, Anna sei in der Psychiatrie gewesen und dort auch gestorben. Annas und Augusts jüngster Bruder Johannes sagte einmal zu seiner Frau, die gemeinsame Tochter Angelika sei seiner Schwester Anna so ähnlich. Ansonsten hat Johannes Golla nie über seine Familie und seine Geschwister gesprochen.

August Golla, Postkarte vom 1.2.1928.

Privatbesitz Angelika Beltz/Interview mit Angelika Beltz, 2021. ArEGL.

In der Familie Golla spricht man nicht über August.
Und nur ganz wenig über Anna.
Die Familie sagt: Anna war in der Anstalt.
Dort ist sie gestorben.
Johannes ist der Bruder von Anna und August.
Einmal sagt er: Meine Tochter Angelika sieht so aus wie Anna.
Sonst spricht Johannes nicht über seine Familie.

August, Post-Karte von 1928.

Anna Gollas

Kennkarte des Deutschen Reiches, 20.03.1942.


Privatbesitz Angelika Beltz.

Das ist eine Kenn-Karte vom 20.03.1942.
Sie gehört Anna.

Die Brüder

Heinrich (geboren 1885) und Peter (geboren 1895) Schwamberger wurden während der »Aktion T4« in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet.

Heinrich Schwamberger, ca. 1936.
Peter Schwamberger, ca. 1927.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/66 Nr. 8500, Nr. 8498.

Heinrich wird 1885 geboren.
Sein Bruder Peter wird 1895 geboren.
Beide werden in Hadamar ermordet.
Bei der »Aktion T4«.

Aus der Patienten-Akte von Heinrich, ca. 1936
Aus der Patienten-Akte von Peter, ca. 1927.

In der Verlegungsliste

zur »Aktion T4« sind beide Brüder Schwamberger aufgeführt, Heinrich jedoch mit falschem Geburtsjahr. Beide wurden im Abstand von nur einer Woche in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet.

Landesheilanstalt Herborn/Dillkreis. Verlegungen 1941. 


Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt. 461 Akte 32061 Bd. 17.

Das ist eine Liste.
Auf der Liste stehen die Namen von Patienten.
Diese Patienten sollen in Hadamar getötet werden.
Heinrich und Peter stehen auf der Liste.
Bei Heinrich steht ein falsches Geburts-Jahr.

Eltern und Kinder

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Die Recherchen zu den Geschwistern deckten auch auf, dass es unter den Opfern der Eugenik, NS-Psychiatrie und »Euthanasie« auch Eltern mit ihren Kindern gab. Deren Verfolgung und Ermordung wirkten sich auch auf die überlebenden Geschwister aus. Zu den bislang identifizierten Eltern mit ihren Kindern gehören:

Anna Goltermann (4.11.1910 – 30.4.1946) (Mutter)

Ewald (24.4.1933 – ?)
Günter (23.6.1934 – ?)

Liselotte (22.5.1936 – ?)

Irmtraut (4.4.1939 – ?)

Katharina Mählmann (30.3.1882 – 23.2.1944) (Pfafferode) (Mutter)

Karl Mählmann (20.1.1899 – 5.1.1944) (Pfafferode)

Albert Münzer (4.1.1909 – ?) (Vater)

Horst Münzer (22.10.1934 – 17.5.1942)

Margarete Schneider (10.12.1872 – 23.9.1943) (Pfafferode) (Mutter)
Otto Schneider (20.3.1905 – ?) (Pfafferode)

Manchmal werden auch Eltern und ihre Kinder getötet.
Manche Geschwister über-leben.
Für diese Geschwister ist das sehr schlimm.
Wir kennen bis heute diese Eltern mit ihren Kindern:

Anna Goltermann (4.11.1910 – 30.4.1946) (Mutter)

Ewald (24.4.1933 – ?)
Günter (23.6.1934 – ?)

Liselotte (22.5.1936 – ?)

Irmtraut (4.4.1939 – ?)

Katharina Mählmann (30.3.1882 – 23.2.1944) (Pfafferode) (Mutter)

Karl Mählmann (20.1.1899 – 5.1.1944)(Pfafferode)

Albert Münzer (4.1.1909 – ?) (Vater)

Horst Münzer (22.10.1934 – 17.5.1942)

Margarete Schneider (10.12.1872 – 23.9.1943) (Pfafferode) (Mutter)
Otto Schneider (20.3.1905 – ?) (Pfafferode)

Im November 1943

wurde Anna Goltermann mit ihren Kindern Ewald, Günter und Lieselotte in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Die Kinder kamen in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Im Zuge ihrer zweiten Aufnahme wurde auch ihr viertes Kind Irmtraut Patientin der »Kinderfachabteilung«. Alle Kinder überlebten.

Krankengeschichte Irmtraut, 1944/1945.


NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 718.

Das ist ein Kranken-Bericht.
Es ist der Bericht von Irmtraut.
Ihre Mutter kommt in die Psychiatrie.
Sie kommt in die »Kinder-Fach-Abteilung«.
Das passiert auch mit ihren 3 Geschwistern.
Alle kommen in die »Kinder-Fach-Abteilung«.
Weil die Mutter erkrankt ist.
Weil die Mutter sich nicht kümmern kann.
Die Mutter stirbt.
Ihre 4 Kinder über-leben.
Sie kommen von Lüneburg nach Lemgo.
Das rettet sie.

Karl Mählmann

wurde 1941 von der Verlegung in die Tötungsanstalt Hadamar zurückgestellt. Zwei Jahre später entkam er der »Euthanasie« nicht. Er wurde in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt und dort getötet. Auch seine Mutter überlebte den Psychiatrieaufenthalt nicht.

Foto von Karl Mählmann, ca. 1932. 


NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 1334.

Das ist ein Foto von Karl.
Er soll ermordet werden.
In der »Aktion T4«.
Aber dann sagt ein Arzt:
Nein.
Karl darf weiterleben.
2 Jahre vergehen.
Dann wird er doch ermordet.
In einer Anstalt in Pfafferode.
Seine Mutter ist auch krank.
Sie kommt in die Anstalt.
Sie stirbt.
Mutter und Sohn sind tot.

Gräber

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Außer den 297 Kindern und Jugendlichen, die auf dem »Kindergräberfeld« des Lüneburger Anstaltsfriedhofs beerdigt wurden, wurden acht weitere Kinder auf den Erwachsenen-Gräberfeldern bestattet. Einziger Grund war, dass keine kleineren Särge zur Verfügung standen und die großen Särge nicht in die Kindergräber passten. Einzelne Gräber ermordeter Kinder befanden sich auch auf dem Lüneburger Zentralfriedhof.

Fast alle dieser Gräber wurden inzwischen eingeebnet. Eines existiert noch heute und konnte erst im Herbst 2021 einem Geschwisterkind zugeordnet werden, das Opfer der »Kinder-Euthanasie« geworden war.

Das Grab der Schwester oder des Bruders zu finden und zu besuchen oder einen Erinnerungsort aufzusuchen, der anstelle eines nicht mehr existierenden Grabes steht, war und ist für die überlebenden Geschwister von großer Bedeutung. Die Gräber und Erinnerungsorte sind Orte der persönlichen Trauer.

(297) Zwei-Hundert-Sieben-Und-Neunzig Kinder liegen auf dem Anstalts-Fried-Hof Lüneburg.
Auf dem Kinder-Gräber-Feld.
Acht Kinder liegen auf dem Gräber-Feld für Erwachsene.
Für diese acht Kinder gibt es keine Kinder-Särge.
Darum kommen sie in große Särge.
Die großen Särge passen nicht in die kleinen Kinder-Gräber.

Manche Kinder liegen auch auf dem Zentral-Fried-Hof Lüneburg.
Die meisten Gräber gibt es heute nicht mehr.
Eins gibt es dort noch.
Erst seit 2021 wissen wir, wem es gehört.
Es ist auch ein Geschwister-Kind.

Menschen möchten das Grab von ihrem Bruder oder ihrer Schwester finden.
Sie möchten das Grab besuchen.
Oder einen anderen Ort.
Hier können sie sich erinnern.
Die Menschen können an ihre Geschwister denken.
Das ist wichtig für die Menschen.

Ingeborgs Geschwister

wurden in ihrer Kindheit oft mit dem Tod ihrer Schwester konfrontiert. Mehrmals im Jahr fuhren sie nach Lüneburg und pflegten Ingeborgs Grab.

Besuch des Anstaltsfriedhofs, ca. 1946/1947. 


Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

 

Ingeborg liegt auf dem Anstalts-Fried-Hof in Lüneburg.
Die Geschwister Renate und Heinz fahren oft mit dem Zug nach Lüneburg.
Sie besuchen Ingeborgs Grab.

Besuch auf dem Anstalts-Friedhof in Lüneburg, 1946/47

Grab von Ingeborg Wahle,

1945. Auf dem Grabstein ist der 22. Februar als Todestag vermerkt. Sie starb jedoch zwei Tage später.


Privatbesitz Renate Beier, geb. Wahle.

Das ist das Grab von Ingeborg Wahle.
Das Foto ist von 1945.
Auf dem Grab-Stein steht ein falscher Todes-Tag.
Ingeborg stirbt am 24. Februar.
Nicht am 22. Februar.

Erinnern

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Die Aufarbeitung der Verbrechen an den Geschwistern ist für die Familien, die mehrere »Eugenik«- und »Euthanasie«-Opfer zu beklagen hatten, und für die noch lebenden Geschwister von großer Bedeutung. Sie halten die Erinnerung an ihre verfolgten und ermordeten nächsten Angehörigen wach. Durch Verluste infolge von Bombardierungen, Flucht und die fortgeschrittene Zeit, gibt es oft keine oder nur wenige Fotos und Erinnerungsstücke, die an die Opfer der Rassenhygiene erinnern. Zwei dieser wenigen Erinnerungsstücke können in dieser Ausstellung gezeigt werden.

Die Nazis verfolgen und ermorden viele Menschen.
Die Familie möchte wissen: Was ist passiert?
Manche Geschwister leben noch.
Von Kindern, die ermordet wurden.
Ihre Geschichten werden aufgeschrieben.
Das ist sehr wichtig für die Familien.
So können sie sich erinnern.
Es gibt oft keine Fotos oder andere Erinnerungs-Stücke mehr.
Zwei Erinnerungs-Stücke zeigen wir hier.

Im Winter 2019

ließ Ingeborg Wahles Nichte auf der Familiengrabstätte in Melle einen Findling für ihre Tante setzen. Symbolisch wurden Ingeborg und ihre Eltern auf der Grabstätte wiedervereint, und es gibt seitdem einen Ort der Trauer, den die Schwester besuchen kann.

ArEGL.

Renates Tochter und Enkel-Tochter setzen einen Erinnerungs-Stein.
Für Ingeborg.
Auf dem Fried-Hof in Melle.
Dort ist die Familien-Grab-Stelle.
Von Renates Familie.
Nun kann Renate dort auch an Ingeborg denken.

Auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof

ist das Grab von Dieter Lorenz eines von nur noch vier existierenden Gräbern von Opfern der Lüneburger »Kinder-Euthanasie«. 1975 wurde es Teil der Kriegsgräberstätte auf dem heutigen Lüneburger Friedhof Nord-West. 40 Jahre später besuchte sein Bruder Helmut das Grab im Rahmen einer Gedenkfeier zum ersten Mal. Seitdem beschreibt dort eine Geschichts- und Erinnerungstafel den historischen Hintergrund.

ArEGL.

Das Grab von Dieter ist seit 1975 ein Kriegs-Grab.
Kriegs-Gräber bleiben immer.
Darum gibt es Dieters Grab noch auf dem Fried-Hof Nord-West.
Das war früher der Anstalt-Fried-Hof.
Dort gibt es nur noch vier Kinder-Gräber.
Viel später besucht Helmut das Grab von seinem Bruder Dieter.
Auf dem Fried-Hof gibt es auch eine Tafel.
Darauf steht die Geschichte über den Anstalts-Fried-Hof.

Der Vater

von Christian Meins sorgte dafür, dass sein Sohn nicht auf dem Anstaltsfriedhof, sondern auf dem Lüneburger Zentralfriedhof bestattet wurde. Da bei seinem Namen »bombenbeschädigt« vermerkt war, wurde sein Grab behandelt wie das eines Opfers des alliierten Luftkriegs. Diese Gräber fielen ab 1952 zweifelsfrei unter das Kriegsgräbergesetz, sodass Christians Grab bis heute Teil der dortigen Kriegsgräberstätte ist.

Im Herbst 2021 wurde das Grab im Zuge der Klärung von Christians Schicksal durch seine Schwester Heidi nach über 20-jähriger Suche gefunden. Da Heidi jahrzehntelang davon ausgegangen war, dass Christians Grab nicht mehr existiert, hatte sie seinen Namen auf eine Gedenk-Stele auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf gravieren lassen. Daher gibt es nun zwei Orte, an denen die Schwester
an ihn erinnern kann.

ArEGL.

Christian liegt auf dem Zentral-Fried-Hof.
Das wollte Christians Vater.
Christians Grab ist auch ein Kriegs-Grab.
Darum ist das Grab heute noch da.
Christians Schwester Heidi sucht das Grab 20 Jahre.
Heidi glaubt:
Ich finde das Grab nicht mehr.
Christians Name steht auf einem Erinnerungs-Stein.
Dieser Stein liegt auf einem anderen Fried-Hof in Hamburg.
Doch im Herbst 2021 findet Heidi das richtige Grab.
Nun kann sie sich an ihren Bruder erinnern.
In Hamburg und in Lüneburg.

Danksagung

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Am Projekt »GESCHWISTER« beteiligten sich 59 Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler:

Nilda Cuba Alvarez, Elina Appelhans, Yesim Aydemir, Mateusz Bak, Leon Bouraoui, Carolin Brohm, Kiara Bruns, Anna Darsow, Rachel Karla Farnham-Meyer, Simone Fehler, Jana Sophie Fobe, Kira Frani, Lena Geiß, Svenja Gohr, Lea Göthlich, Pia Götze, Vera Grothusmann, Paul-Lennert Güds, Louisa Harrison, Leonie Helminski, Bennet Horstjan, Sarah Hötl, Lisa-Sophie Hoyer, Frederike Hunneshagen, Maya Kerfack, Alina Keseling, Jordis Koch, Lena Kruse, Erik Kubelke, Laura-Sophie Kwiecinski, Bjarne Lohgard, Miriam Meyer, Emily Montanus, Dilcan Öncü, Charlotte Petersen, Lisa-Marie Piper, Vadhiliya I. Putri, Meg Rauch, Marie Robke, Tobias Rokohl, Louisa Rosenow, Solveig Kristin Rubbert, Marie Rund, Morteza S., Sophia Sandt, Angelina Scharbau, Lisa Marie Schröder, Pia-Madelaine Schulz, Sara Sölter, Martina Adriana Soos, Nele Stelter, Fenja Stöckel, Vivien Stöckel, Carolin Stüber, Anne ter Horst, Felix Theiß, Emma Werthmann, Roman Wulff, Serfinaz Zimmermann.

Konzeption/Kuratorin: Dr. Carola S. Rudnick

Autorinnen: Elke Severon, Dr. Carola S. Rudnick

Lektorat: Antje Pauleweit, Angela Wilhelm

Grafik/Layout: WIR-Mediendesign Lüneburg

Ausstellungstechnik: Claudia Kutzick

Filme: Hannah Eiben, Yule von Hertell

Sprecher/-in: Hendrik Lux, Franziska Kutzick


Dank geht an alle GESCHWISTER und weiteren Angehörigen, die zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben.

Dank geht an das Niedersächsische Landesarchiv Hannover und das Bundesarchiv Berlin für die Unterstützung der Recherchen und Bereitstellung zahlreicher Akten.

Dank geht an Frank Konersmann von der Stiftung Eben-Ezer und Elisabeth Goethe von der Ökumenischen Hainich Klinikum GmbH für die Unterstützung der Schicksalsklärung.

Dank geht an die Lüneburger Pflegeschulen und ihre Schülerinnen und Schüler.

Dank geht an die Förderer des Projekts »GESCHWISTER«.

Das Projekt »GESCHWISTER« sowie die digitale Infrastruktur der Ausstellung wurden gefördert von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, der VGH-Stiftung, der Partnerschaft für Demokratie Lüneburg im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!«, vom Deutschen Verband für Archäologie e. V. aus Mitteln des Bundesprogramms »Neustart Kultur« der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sowie von der Hansestadt Lüneburg.

Viele Menschen haben bei der Ausstellung »Geschwister« geholfen.
Es sind (59) Neun-Und-Fünfzig Pflege-Schüler.