Geschichte Raum geben

Einleitung

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»Euthanasie« wird gemeinhin als Patientenmord an deutschen Erwachsenen beschrieben. Als Mord an Einzelnen, die aus der Familie gerissen und vereinzelt verfolgt, entrechtet und ermordet wurden. Diese Vereinzelten sind bis heute in der Aufarbeitung noch oft anonym, und das Verbrechen wird als klinische Tat beschrieben, die in einer Anstalt stattgefunden hat − also weit entfernt in einer »totalen Institution«. Zur Wahrheit der rassenhygienischen Verfolgung gehört jedoch, dass alle Mitglieder betroffener Familien rassenhygienisch erfasst und überprüft wurden und es infolgedessen vorkam, dass beispielsweise mehrere Kinder einer Familie in die »Kinderfachabteilung« eingewiesen wurden.

Die letzte Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« erfolgte am 13. August 1945. Es handelte sich um den achtjährigen Hans-Georg Witt aus Bohlsen.

Unter den Kindern und Jugendlichen in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg befanden sich
35 Geschwisterkinder aus 15 Familien. Aus diesen Familien wurden bis zu vier Geschwisterkinder eingewiesen. Dies hatte zur Folge, dass manchen Eltern alle Kinder genommen wurden.

In der Regel kamen die Kinder auch nach dem Krieg nicht zurück in ihre Familien. Nur ein Geschwisterkind kehrte »ungeheilt« zu seinen Eltern zurück. Die Jugendlichen wurden oft der Jugendfürsorge übergeben. Entlassungen nach Hause waren die Ausnahme.

Viele der überlebenden Kinder und Jugendlichen blieben noch bis in die 1970er-Jahre Anstaltspatientin bzw. -patient.

»Euthanasie« bedeutet:
Mord an Patienten.
An Menschen mit einer Behinderung.
Oder einer besonderen Krankheit.
Auch Kinder werden ermordet.

Alle aus einer Familie werden unter-sucht.
Wenn einer in der Familie eine Behinderung hat.
Oder eine besondere Krankheit.
Oft kommen mehrere Kinder aus einer Familie in eine »Kinder-Fach-Abteilung«.
Das letzte Kind kommt am 13. August 1945.
Es ist Hans-Georg.
Er ist 8 Jahre alt.

In der »Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg sind (35) Fünf-Und-Dreißig Geschwister-Kinder.
Aus (15) Fünf-Zehn Familien.
Es sind 2 bis 4 Geschwister aus einer Familie.
Manche Eltern haben dann kein Kind mehr zu Hause.

Viele Kinder bleiben lange in der Anstalt.
Manche bleiben 30 Jahre.
Sie kommen nicht mehr zu ihren Familien.
Nur ein Kind kommt zurück zu seinen Eltern.
Ältere Kinder kommen oft in ein Jugend-Heim.
Nur wenige kommen wieder nach Hause.

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Insgesamt wurden zwischen 1941 und 1945 mindestens 737 Kinder und Jugendliche im Alter von einem Tag bis 16 Jahren in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen. 425 von ihnen überlebten ihren Aufenthalt nicht. Bei weiteren 61 Kindern und Jugendlichen ist unklar, ob sie überlebten.

(737) Sieben-Hundert-Sieben-Und-Dreißig Kinder und Jugendliche kommen in die Lüneburger Anstalt.
In die »Kinder-Fach-Abteilung«.
Zwischen 1941 und 1945.
Sie sind zwischen einem Tag und 16 Jahre alt.
(425) Vier-Hundert-Fünf-Und-Zwanzig Kinder sterben dort.
Bei (61) Ein-Und-Sechzig Kindern wissen wir es nicht.
Ob sie sterben.
Oder über-leben.

Sterberate

»Kinderfachabteilung« Lüneburg

So viele Kinder sterben in der
»Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg.

Belegte Sterbefälle

in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg

Diese Kinder sterben in der
»Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg.

 

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Am 9. und 10. Oktober 1941 nahm die »Kinderfachabteilung« Lüneburg die ersten Patientinnen und Patienten auf.
Es waren 138 Kinder und Jugendliche aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. 88 Prozent von ihnen starben, überwiegend in den Jahren 1942 und 1943. Nur neun Jungen und sieben Mädchen überlebten.

 

Die ersten Kinder kommen am 9. und 10. Oktober 1941.
In die »Kinder-Fach-Abteilung« nach Lüneburg.
Es sind (138) Ein-Hundert-Acht-Und-Dreißig Kinder und Jugendliche.
Sie kommen aus einer Anstalt in Rotenburg.
Viele Kinder sterben.
Die meisten Kinder sterben 1942 und 1943.
Nur neun Jungen und sieben Mädchen über-leben.

Verlegungen

aus den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg.

Die Kinder kommen am 9. und 10. Oktober.
Aus der Anstalt in Rotenburg.
In die »Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg.

Die Namen der Geschwister

Dieter Bode (27.4.1937 – 10.4.1943)
Rosemarie Bode (27.4.1937 – 4.2.1942)

Helga (25.3.1931 – ?)
Hermann (12.9.1932 – ?)
Gisela (3.2.1935 – ?)

Luise (16.11.1937 – ?)
Karl-Heinz (8.4.1941 – ?)

Günther Bruchmüller (7.5.1933 – 2.12.1956)
Hermann (18.1.1935 – ?) (Entlassen in die Familienpflege 1954)

Hans Buhlrich (1.5.1932 – 17.10.1942 in Kutzenberg)
Erika Buhlrich (21.5.1936 – 23.11.1944)
Margret Buhlrich (3.3.1941 – 25.1.1945)

Siegfried Eilers (2.6.1929 – 11.4.1976)
Hannelore (30.6.1937 – ?) (Entlassen 15.10.1962)
Irmgard (16.10.1938 – ?) (Entlassen 1.7.1960)
Ernst Eilers (25.10.1939 – 11.4.1945)

Adolf Eisenhauer (17.10.1928 – 16.3.1944)
Hermann Eisenhauer (17.7.1930 – 6.4.1973)

Ewald (24.4.1933 – ?) (Entlassen 1.8.1951)
Günter (23.6.1934 – ?) (Entlassen 1.4.1953)
Liselotte (22.5.1936 – ?) (Entlassen 19.9.1946)
Irmtraut (4.4.1939 – ?)

Johannes Janssen (12.1.1930 – 21.12.2003)
Heinrich Janssen (4.3.1932 – 9.10.2010)

Helmut Kamlah (25.4.1938 – 16.8.1945)
Willi (25.4.1938 – ?) (entlassen 30.9.1946 nach Krakau)

Herbert Köhler (18.8.1928 – 22.3.1945)
Willi Köhler (18.8.1928 – ?)

Johann (17.9.1931 – ?)
Paul (28.1.1934 – ?)

Günter (7.2.1929 – ?)
Erwin (26.10.1937 – ?)

Gisela Winter (27.6.1927 – 14.5.1942)
Hermann Winter (21.9.1929 – ?) (Entlassen 23.10.1944)

Erika (18.8.1938 – ?) (Entlassen 6.8.1951)
Käte (18.1.1940 – ?)

Erika und Margret

Buhlrich kamen 1944 in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Ihr Bruder Hans war bereits 1942 in Kutzenberg ermordet worden. Die Schwestern wurden rund zwei Jahre später ermordet, um an ihren Gehirnen zu untersuchen, ob eine Veranlagung vorläge und die Mutter besser kein viertes Kind bekommen solle.

Erika Buhlrich, ca. 1937 und Margret Buhlrich, ca. Sommer 1944.


Privatbesitz Friedrich Buhlrich.

Erika und Margret sind Schwestern.
Sie kommen 1944 in die »Kinder-Fach-Abteilung« nach Lüneburg.
Ihr Bruder Hans wird schon 1942 ermordet.
In einer anderen Anstalt.

1944 sterben auch Erika und Margret.
Sie werden auch ermordet.
Ein Arzt unter-sucht dann ihre Gehirne.
Er will wissen: Gibt es eine Erb-Krankheit in der Familie?

Gisela und Hermann Winter,

geboren 1927 und 1929, waren zwei von insgesamt sechs Kindern der Familie. Sie wurden am 12. Februar 1942 von ihrer älteren Schwester Hertha zur Aufnahme in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« gebracht. Bei der Aufnahme geriet auch Hertha ins Visier.

Krankengeschichte von Hermann Winter, Seite 1.


NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2180.

Das ist ein Kranken-Bericht.
Es ist der Bericht von Hermann.
Seine Schwester und er sind in der »Kinder-Fach-Abteilung«.
Ihre große Schwester Hertha bringt sie dahin.
Dabei wird Hertha auch überprüft.
Ob sie gesund ist.

Zwillinge

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Sechs Geschwisterkinder, die in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen wurden, waren Zwillinge. Nur drei von ihnen überlebten. Die im Nationalsozialismus betriebene »Zwillingsforschung« hatte in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« keine Bedeutung. Ausschlaggebend war, dass die Zwillingskinder Entwicklungsverzögerungen hatten. Die Ursachenforschung wurde vernachlässigt, sodass die Zwillingsexistenz an sich vermutlich keine Auswirkung
auf die Ermordung hatte.

Sechs Geschwister-Kinder in der »Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg sind Zwillinge.
Nur drei Kinder über-leben.

In der Nazi-Zeit gibt es eine Zwillings-Forschung.
Da werden Zwillinge unter-sucht.
Aber nicht in Lüneburg.
Hier ist nur wichtig:
Die Kinder haben eine Behinderung.
Kinder mit einer Behinderung werden oft getötet.
Es ist egal, ob es ein Zwillings-Kind ist.

 

Da die Mutter

in großer Sorge um ihre Zwillinge war, stattete sie beiden am 4. Januar 1944 einen Besuch ab. Sie fand ihre Kinder trotz eisiger Kälte nackt im Bett auf. Zudem mussten die Kinder ab nachmittags Bettruhe halten und aßen dort auch ihr Abendessen.

Daraufhin schrieb sie mehrere Beschwerdebriefe an den Ärztlichen Direktor und drohte damit, sogar den Reichsgesundheitsführer Leonard Conti einzuschalten. Berta schrieb auch an ihre Zwillinge einen Brief und machte ihnen Mut durchzuhalten, bis sie eine Lösung gefunden habe. Letztendlich konnte sie nur ihren Sohn Willi retten.

Schreiben an Willi und Herbert Köhler, 7.1.1944. (Vorder- und Rückseite)

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.

Das ist ein Brief.
Er ist an die Zwillinge Herbert und Willi.
Er ist von ihrer Mutter.
Sie macht sich große Sorgen.
Sie ärgert sich.
Sie findet:
Die Kinder werden in der »Kinder-Fach-Abteilung« schlecht behandelt.
Sie will sich beschweren.

Sie macht Willi und Herbert Mut.
Sie sollen durch-halten.

Herbert stirbt.
Nur Willi wird gerettet.
Seine Mutter holt ihn nach Hause.

Sterbende Geschwister

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Aus mindestens sechs Familien mussten die Geschwister mit ansehen, wie der eigene Bruder bzw. die eigene Schwester in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg ermordet wurde. Weitere Brüder und Schwestern starben noch während der Nachkriegszeit in den Anstalten, in denen sie weiterhin Patientinnen und Patienten waren.

Manche Kinder sind dabei.
Wenn der Bruder oder die Schwester ermordet wird.
In der »Kinder-Fach-Abteilung« in Lüneburg sind es Kinder aus sechs Familien.
Manche Geschwister sterben auch noch nach dem Krieg in einer Anstalt.
Da ist die Nazi-Zeit schon vorbei.

Herbert Köhlers

Zwillingsbruder Willi war während dessen Leidenszeit bei ihm. Ihn traf der Tod seines Bruders Herbert hart:

»Als sein Zwillingsbruder vor kurzer Zeit starb, war W. sehr beeindruckt, weinte viel, ass [sic] schlecht. Zu einem Brief an die Mutter bat er um einen Trauerflors [sic].«

Auszug aus der Krankengeschichte von Willi Köhler.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 416.

Herbert stirbt in der Lüneburger Anstalt.
Sein Zwillings-Bruder Willi ist bei ihm.
Willi ist sehr traurig.
Er weint viel.
Er will nicht mehr essen.
Er möchte eine schwarze Binde am Arm tragen.

Aus der Kranken-Geschichte von Willi.

Günther Bruchmüller

wurde am 27.1.1944 aus Lemgo zurück in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt. Er starb dort am 2.12.1956.

Aktendeckel Krankenakte Günther Bruchmüller.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

Günther kommt am 27.1.1944 zurück aus Lemgo.
Er kommt wieder in die Lüneburger Anstalt.
Dort stirbt er 13 Jahre später.

Entkommen

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Wenn die Geschwister getrennt wurden, führte dies oft zu einem Kontaktabbruch. Die Wiederaufnahme gestaltete sich mühsam, da nicht immer bekannt war, wo sich das Geschwisterkind befand. Dennoch versuchten die Geschwister, die Verbindung zu ihren Brüdern und Schwestern zu halten, wie dieses Schreiben zeigt.

Viele Geschwister werden getrennt.
Dann sehen sie sich oft lange nicht mehr.
Manche suchen ihren Bruder oder ihre Schwester.
Sie wissen oft nicht:
Wo ist ihr Bruder oder ihre Schwester.
Die Suche ist schwer.

Hermann

erkundigte sich über die Anstaltsleitung nach seinem Bruder Günther Bruchmüller. Einen Monat später starb Günther.

Schreiben der Anstalt Eben-Ezer an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 19. November 1956.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 3058.

 

Hermann schreibt an die Anstalt.
Er fragt: Wo ist mein Bruder Günther?
Einen Monat später stirbt Günther.
Brief von Hermann vom 19.11.1956.

Entkommen

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Mindestens 103 Kinder und Jugendliche wurden von Lüneburg in die Stiftung Eben-Ezer nach Lemgo verlegt. Sie galten als »entwicklungs- und bildungsfähig«. Die Verlegung diente dem Zweck, die »Beschulung« zu versuchen. Deshalb waren alle Kinder zwischen fünfeinhalb und 13 Jahren alt. Jüngere und ältere Kinder hatten keine Chance, auf diese Weise zu entkommen – mit einer Ausnahme.

Erika wurde nach Eben-Ezer verlegt, obwohl sie erst vier Jahre alt war. Sie sollte nicht von ihrer Schwester Käte getrennt werden. Mindestens 24 dieser Kinder und Jugendlichen wurden in die »Kinderfachabteilung« zurückverlegt. Viele von ihnen überlebten den Krieg nicht oder blieben auch weit über die NS-Zeit hinaus Patientin bzw. Patient der Lüneburger Anstalt.

 

(103) Ein-Hundert-Drei Kinder kommen aus der »Kinder-Fach-Abteilung« Lüneburg in eine andere Anstalt.
Die Ärzte sagen:
Diese Kinder können vielleicht noch etwas lernen.
Die andere Anstalt ist in Lemgo.
Das ist eine kleine Stadt in der Mitte von Deutsch-Land.
Dort sollen die Kinder in die Schule gehen.
Die Kinder sind zwischen 5 und 13 Jahre alt.
Jüngere und ältere Kinder dürfen nicht nach Lemgo.
Nur Inge Wolf darf mit 4 Jahren auch nach Lemgo.
Weil ihre Schwester Käte auch da ist.

Mindestens (24) Vier-Und-Zwanzig kommen wieder zurück aus Lemgo.
In die »Kinder-Fach-Abteilung« nach Lüneburg.
Viele sterben dort.
Viele bleiben auch nach dem Krieg in der Lüneburger Anstalt.

 

Auszug

aus der Krankengeschichte von Erika.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 2914.

Aus der Kranken-Geschichte von Erika.