Geschichte Raum geben

Die Geschwister

Marie Wege und Wilhelm Saul

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Wilhelm Saul sen. und seine Frau Wilhelmine betrieben einen kleinen Hof in Scharnebeck, Im Fuchsloch 13, mit einigen Schweinen und Kühen und einer Scheune mit Getreide, Stroh und Heu. Das Leben auf dem Hof war geprägt von harter Arbeit und der Zugehörigkeit zu einer selbstständigen evangelischen Kirche (SELK). Es war eine Gemeinschaft, die unter sich blieb. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Marie, Minna, Wilhelm jun., Anna und Emma. Weil es keine Angestellten gab, mussten die Kinder früh mit anpacken.

Wilhelm Saul und Marie sind Geschwister.
Sie haben noch drei weitere Geschwister.
Sie leben in Scharnebeck.
Sie haben einen Bauern-Hof.
Sie müssen hart arbeiten.

Familienfoto der Familie Saul.

Vorne in der Mitte: Wilhelmine und Wilhelm Saul sen. Hinter ihnen steht Wilhelm jun. Minna sitzt links von der Mutter, rechts neben Wilhelm senior sitzt Marie. Hinter ihr steht die jüngste Schwester Emma. Links neben Wilhelm jun. steht Anna Saul.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Das ist ein Foto von der Familie Saul.
Wilhelm steht hinten in der Mitte.
Marie sitzt rechts auf einem Stuhl.
Das Foto ist etwa von 1925.

Wilhelm Saul jun.

liegt auf dem Heuwagen, davor stehen Marie und Emma, ca. 1927. Der elterliche Hof in Scharnebeck ist noch immer im Familienbesitz.

Privatbesitz Lisa Michaelis, geb. Tiedge.

Das ist ein Foto.
Es zeigt Wilhelm und Marie.
Wilhelm liegt auf dem Heu-Wagen.
Marie steht links.
Ihre Schwester Emma steht rechts.
Das Foto ist aus dem Jahr 1927.

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Die Töchter arbeiteten nach Beendigung der Schule auf verschiedenen Höfen als Haushaltshilfen und lernten dort meist ihre späteren Ehemänner kennen. Minna heiratete 1930 den Landwirt Johannes Schmidt aus Stelle. Die jüngste Tochter Emma heiratete den Stellmacher Wilhelm Schlichting aus Südergellersen. Anna heiratete 1938 Hermann Tiedge. Die älteste Tochter Marie heiratete 1931 den sechs Jahre jüngeren Brunnenbauer Hans Wege. Maries Vater Wilhelm sen. erwarb für Marie und ihren Mann eine kleine Hofstelle in Brietlingen, wo die Familie Wege fortan lebte und arbeitete.

Die Schwestern heiraten.
Marie heiratet im Jahr 1931.
Sie heiratet Hans Wege.
Er baut Brunnen.
Der Vater von Marie kauft ihnen einen Bauern-Hof.
Der Bauern-Hof ist in Brietlingen.

Auf dem Hochzeitsfoto

von Emma und Wilhelm Schlichting ist die Familie Saul wiederzufinden. Wilhelm jun. steht in der dritten Reihe, sechster von links, Marie steht in der zweiten Reihe und ist die dritte von rechts. Schräg hinter ihr mit Brille steht ihr Ehemann Hans Wege. Links neben ihr steht Minna. Hinter beiden Schwestern steht Anna.

Hochzeitsfoto Emma und Wilhelm Schlichting, Südergellersen, 6.10.1933.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Das ist ein Foto.
Es zeigt die ganze Familie.
Die Schwester Emma heiratet im Jahr 1933.
Es ist eine große Hoch-Zeit.
Auf dem Foto sind alle Gäste der Hoch-Zeit.
Auch Wilhelm und Marie.
Wilhelm steht in der dritten Reihe.
Marie steht in der zweiten Reihe.

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Maries Ehemann Hans Wege brachte eine voreheliche Tochter mit in die Ehe, es folgten drei weitere gemeinsame Kinder: Hans-Heinrich, Marianne und Hildegard. Am 8. April 1938 stellte Hans Wege bei der Gemeinde Brietlingen einen Antrag auf einmalige Kinderbeihilfe. Von diesem Moment an gerieten die Familien Wege und Saul in den Fokus der nationalsozialistischen »Eugenik«.

Obwohl Marie zwischen August und Dezember 1928 Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gewesen war, bescheinigte das Gesundheitsamt, dass bezüglich des Antrags auf Gewährung einer einmaligen Kinderbeihilfe keine »schwerwiegenden gesundheitlichen Bedenken« bestehen.

Der Antrag auf Kinderbeihilfe blieb dennoch nicht folgenlos. Eine ein Jahr zuvor gestellte Sterilisationsanzeige über Wilhelm Saul jun. wurde nun zum Anlass, auch ihn ins Gesundheitsamt vorzuladen und zu überprüfen. Es wurde eine »Sippentafel« erstellt.

Begleitet von seinem Vater, nahm Wilhelm jun. den Termin wahr. Trotz gegenläufiger Bemühungen wurde die Familie Saul in der Folgezeit als »erbkrank« eingestuft. Infolgedessen wurde Wilhelmine Saul das sogenannte »Ehrenkreuz der Deutschen Mutter« verwehrt und ein Erbgesundheitsgerichtsverfahren über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul jun. eingeleitet.

Hans Wege hat schon eine Tochter.
Marie und Hans Wege bekommen drei gemeinsame Kinder.
Sie brauchen Geld für ihre Kinder.
Die Nazis sagen:
Nur gesunde Menschen sollen Kinder-Geld bekommen.
Marie und Hans haben Glück.
Sie bekommen Kinder-Geld.

Aber sie werden auch unter-sucht.
Genauso wie der Bruder von Marie – Wilhelm.
Der Arzt sagt:
Wilhelm ist schwach-sinnig.
Er muss un-fruchtbar gemacht werden.
Er darf keine Kinder bekommen.

»[…] bei 2 Kindern der Antragstellerin sind Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses festgestellt, sodaß die Familie nicht als erbgesund angesehen werden kann.«

Amtsärztliche Bescheinigung

des Gesundheitsamtes Lüneburg vom 3.8.1939.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Das ist ein Zeugnis.
Darin steht:
Die Familie Saul ist krank.
Sie dürfen keine Kinder bekommen.

Am 4. April 1940

wurde das Urteil über die Sterilisation von Wilhelm Saul jun. rechtskräftig. Zwei Wochen später wurde Wilhelm Saul jun. im Städtischen Krankenhaus Lüneburg aufgenommen und am 18. April 1940 zwangssterilisiert.

Beschluss des Lüneburger Erbgesundheitsgerichts über die Unfruchtbarmachung von Wilhelm Saul vom 5.3.1940.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1719.

Das ist ein Beschluss.
Ein Beschluss ist eine Entscheidung von einem Gericht.
Es hat entschieden:
Wilhelm ist un-fruchtbar zu machen.

Am 18. April 1940 wird Wilhelm operiert.
Gegen seinen Willen.

Porträt von Marie Wege,

ca. 1930er Jahre.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Das ist ein Foto von Marie Wege.
Es ist aus den dreißiger Jahren.

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Fünf Jahre nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter erkrankte Marie Wege erneut. Am 8. Februar 1943 wurde sie von einem Hausarzt aus Scharnebeck wegen »manisch-depressiven Irreseins« in die Lüneburger Anstalt eingewiesen. Sie war sehr unruhig, verweigerte das Essen. Ein Versuch, sie künstlich zu ernähren, misslang - sie kollabierte. Sie starb kaum zwei Wochen nach ihrer Einweisung am 19. Februar 1943. Als Todesursache wurde »Herzmuskelentzündung« angegeben.

Obwohl Marie vor ihrem Tod nur wenige Tage Patientin der Lüneburger Anstalt gewesen war, bekam sie Besuch von ihren Eltern, ihrem Ehemann und anderen Verwandten. Der Klinik gelang es nicht, ihr Leben zu retten. Inwiefern sie ein Opfer mangelnder Versorgung ist, bleibt offen. Nach Maries Tod habe die Familie gesagt »Na, vielleicht ist da nachgeholfen worden«, berichtet Lisa Michaelis, die Nichte von Marie und Wilhelm Saul.

Weil Wilhelm jun. nicht in der Lage war, den elterlichen Hof zu übernehmen, wurde er 1946 an seine Schwester Anna überschrieben. Als Bruder erhielt er ein lebenslanges Wohnrecht, bekam freies Essen und Trinken sowie ein Taschengeld.

Im Jahr 1958 bemühte sich Anna um eine Entschädigung und Wiedergutmachung für die erlittene Zwangssterilisation ihres Bruders. Sie erhielt dabei Unterstützung von einem Vetter. Sie reichten bei der Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg Klage ein. Die Klage wurde am 19. September 1959 abgewiesen.

Zur Begründung heißt es:

Marie wird krank.
Sie isst nicht.
Sie schläft nicht.

Ihr Arzt entscheidet:
Marie muss in eine Anstalt.

In der Anstalt will sie nichts essen.
Sie will keine Hilfe.
Sie stirbt.
Das ist am 19. Februar 1943.
Ihr Bruder Wilhelm bleibt zu Hause wohnen.

Dann ist der Krieg aus.
Wilhelm sagt:
Ich bin ein Opfer der Nazis.
Sie haben mich gegen meinen Willen un-fruchtbar gemacht.
Dafür will ich jetzt Wieder-Gut-Machung.
Dafür will ich als Trost ein wenig Geld.

Aber das Gericht sagt:
Nein.
Die Operation war richtig.
Wilhelm soll niemals Kinder bekommen.
Wilhelm hat kein Recht auf Wieder-Gut-Machung.
Der Grund ist:
Sein Brief kommt 2 Wochen zu spät.
Die Zeit ist ab-gelaufen.

»Gemäß §189 Abs. 1 BEG waren Entschädigungsanträge bis zum 1.4.1958 bei der zuständigen Entschädigungsbehörde zu erstellen. Durch den erst am 17.4.1958 eingegangenen formlosen Antrag ist diese Frist nicht gewahrt. […] Aber auch sachlich würde ein Entschädigungsanspruch nicht zu begründen sein. Wie sich aus den beigezogenen Erbgesundheitsakten des Staatlichen Gesundheitsamtes Lüneburg ergibt, erfolgte die Sterilisation des Antragstellers […] wegen ›Schwachsinns mit aufgepfropfter Schizophrenie‹. Der Eingriff verlief regelgerecht. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß diese Maßnahme – wie es §1 BEG [Bundesentschädigungsgesetz] voraussetzt, aus Gründen der Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, der Rasse, des Glaubens, oder der Weltanschauung gegen den Antragsteller gerichtet wurde, sind weder aus den beigezogenen Akten noch aus dem Vortrag des Antragstellers zu ersehen. Da die […] vorgenommene Sterilisation aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 […] angeordnet wurde, muß vielmehr angenommen werden, daß hierfür eugenische Gründe maßgebend gewesen sind. Der Antrag war daher zurückzuweisen.«

Beschluss

in der Entschädigungssache Wilhelm Saul jun., Auszug.

NLA Hannover Nds. 720 Lüneburg Acc. 139/90 Nr. 107

Das ist ein Beschluss.
Es ist eine Entscheidung vom Gericht.
Darin steht:
Wilhelm hat kein Recht auf Wieder-Gut-Machung.

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Wilhelms Schwester Anna legte Rechtsmittel gegen den Ablehnungsbescheid ein und klagte. Eine Woche vor dem Verhandlungstermin am 12. Februar 1960 zogen sie und ihr Vetter »im Einvernehmen« mit Wilhelm Saul jun. die Klage zurück. Die Gründe sind bis heute unbekannt.

Wilhelm Saul jun. lebte bis zwei Jahre vor seinem Tod mit seiner Schwester Anna und ihrer Familie auf dem elterlichen Hof. Ab 1973 übernahm seine Nichte Lisa die Pflegschaft für ihn.

Er starb 1976 im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburg. Erst in seinen letzten Lebensjahren, als die Familie allmählich mit seiner Pflege überfordert war, wurde Wilhelm Psychiatriepatient. Nach seinem Tod ließ ihn die Familie nach Scharnebeck überführen, sodass er daheim seine letzte Ruhe fand.

Wilhelm bekommt keine Wieder-Gut-Machung.
Das findet seine Familie falsch.
Sie beschweren sich.
Sie sagen:
Moment mal!
Die Nazis waren im Un-Recht.
Aber sie haben keinen Erfolg.

Wilhelm wird alt.
Das Zusammen-Leben ist immer schwieriger mit ihm.
Er kommt in die Anstalt.
Er stirbt im Jahr 1976.
Es ist eine Folge eines Unfalls.
Seine Familie holt seine Leiche nach Scharnebek.
Er wird dort begraben.

Klage

gegen den Ablehnungsbescheid über den Antrag auf Entschädigungsrente vom 19.9.1959.

NLA Hannover Nds. 720 Lüneburg Acc. 139/90 Nr. 107.

Das ist ein Brief an das Gericht.
Die Familie kämpft.
Dafür dass Wilhelm als Opfer der Nazis gesehen wird.