Geschichte Raum geben

Rudolf Hagedorn

und seine Schwester Ingrid

Mithilfe von Marie Robke, Louisa Harrison, Lea Göthlich, Kiara Bruns, Sarah Hötl

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Rudolf Hagedorn (Rudi) kam mit seinen jüngeren Geschwistern Kurt und Ingrid sowie seiner Mutter infolge der Flucht aus Pommern nach Soltau. Gemeinsam wurden sie in einem rund 10 m² großen Zimmer bei einer Familie Schenk untergebracht. Rudis Vater wurde bereits mit Kriegsausbruch als Soldat eingezogen. Nachdem der Vater weg war, übernahm Rudi eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle als ältester Sohn. Die Arbeitsbedingungen der Mutter erforderten von ihm zudem die Übernahme häuslicher Aufgaben sowie die Versorgung und Betreuung seiner jüngeren Geschwister Kurt und Ingrid. Er pflegte einen liebevollen und fürsorglichen Umgang mit ihnen.

Rudolf Hagedorn hat zwei Geschwister.
Sein Bruder heißt Kurt.
Seine Schwester heißt Ingrid.
Der Vater ist Soldat im Krieg.
Die Mutter ist bei ihren Kindern.

Sie kommen aus Pommern.
Das ist weit weg.
Das ist heute Polen.
Sie sind von dort nach Deutsch-Land geflüchtet.

Die Mutter muss arbeiten.
Rudolf passt auf seine Geschwister auf.
Er bringt Ingrid Laufen bei.
Er hilft Ingrid und Kurt.
Er ist wie ein Vater für sie.

Rudolf Hagedorn

im Alter von ca. zwei Jahren auf dem Schoß seiner Mutter, ca. 1931.

Privatbesitz Ingrid Hruby.

Das ist ein Foto von Rudolf.
Er sitzt auf dem Schoß seiner Mutter.
Da ist er zwei Jahre alt.

Rudolf Hagedorn

und seine Schwester Ingrid beim Laufen lernen, ca. Januar 1943.

Privatbesitz Ingrid Hruby.

Das ist ein Foto von Rudolf und seiner Schwester Ingrid.
Er übt mit ihr das Laufen.
Da ist er vier-zehn Jahre alt.

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Der Hausherr in Soltau war grob zu den Geflüchteten. Die Kinder durften nicht auf dem Hof spielen. Äpfel, die auf dem Boden lagen, durften sie nicht essen. Um in ihr Zimmer zu gelangen, mussten die drei Kinder und die Mutter ein Zimmer des Hausherrn passieren, in dem er Korn lagerte und es vor Mäusen wimmelte. Die Initiative, Rudi wegen hin und wieder auftretender epileptischer Anfälle als »anstaltsbedürftiges Kind« bei der Polizei zu melden, ging mutmaßlich von ihm aus. Die Meldung führte zur amtsärztlichen Begutachtung und schließlich zur Zwangseinweisung.

Nach der Flucht haben sie kein Zuhause.
Sie haben keine eigene Wohnung.
Sie haben nur ein Zimmer.
Sie mieten es.
Sie sind vier und teilen sich das kleine Zimmer.
Dort gibt es auch Mäuse.

Der Vermieter ist kein guter Mensch.
Er mag keine Kinder.
Er ist böse zu ihnen.
Er mag auch Rudolf nicht.
Weil er Anfälle hat.

Der Vermieter geht zur Polizei.
Er sagt der Polizei:
Rudolf ist krank.
Rudolf muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Seine Mutter will das nicht.
Sie sagt: Nein!

 

Polizeiliche Verfügung

vom 23.2.1945.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.

Das ist ein Brief der Polizei.
Darin steht:
Rudolf muss in ein besonderes Kranken-Haus.
Was die Mutter und Rudolf wollen ist egal.

Telefonnotiz

zum telefonischen Aufnahmeantrag vom 24.2.1945.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.

Das ist eine Telefon-Nachricht.
Es geht um Rudolf.
Rudolf soll in ein besonderes Kranken-Haus.

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Am 2. März 1945 wurde Rudi gegen den Willen seiner Mutter von der Schutzpolizei von zu Hause abgeholt und in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eingewiesen, obwohl er medikamentös eingestellt war und rechtzeitig Bescheid gab, wenn sich ein Anfall anbahnte.

Im Zuge der letzten Kriegswirren und der Kapitulation war es Rudis Mutter Margarete Hagedorn nicht möglich, ihren Sohn während seines Aufenthalts zu besuchen, sie erhielt keine Fahrerlaubnis. Rudis Versuche wegzulaufen scheiterten. Den Aufzeichnungen der Anstalt ist ein zunehmender Gewichtsverlust zu entnehmen. Vermutlich infolge einer Mangelernährung entstanden starke Wassereinlagerungen. Epileptische Anfälle oder andere psychiatrisch zu behandelnde Auffälligkeiten hingegen blieben aus. Daher kam Max Bräuner nur sechs Tage vor Rudis Tod zu der Einschätzung:

Die Polizei bringt Rudolf ins besondere Kranken-Haus.
Was die Mutter und Rudolf wollen ist der Polizei egal.
Die Mutter kann Rudolf nicht besuchen.
Sie hat kein Auto.
Sie hat kein Fahrrad.
Sie muss die Bahn nehmen.
Aber sie bekommt keinen Fahr-Schein.
Rudolf ist allein.
Er muss im Kranken-Haus arbeiten.
Er macht schwere Feld-Arbeit.
Das findet er nicht gut.
Er versucht weg-zu-laufen.
Er bekommt kaum zu essen.

Lange Zeit hat er keine Anfälle.
Deswegen sag ein Arzt:
Rudolf darf wieder nach Hause.
Aber dafür ist er zu schwach.

»Wenn er erst wieder hergestellt ist, könnte m.E. dem Gedanken seiner Entlassung nähergetreten werden.«

Schreiben

von Max Bräuner an Margarete Hagedorn vom 21.6.1945.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.

Das ist ein Brief von einem Arzt.
Er schreibt:
Rudolf darf wieder nach Hause.
Aber dafür ist er zu schwach.

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Weitere sechs Tage nach seinem Hungertod am 27. Juni 1945 erkundigte sich Rudis Mutter besorgt nach seinem Gesundheitszustand. Niemand hatte sie über seinen Tod informiert. Weder sie noch seine Geschwister konnten an Rudis Beerdigung teilnehmen und sich angemessen verabschieden. Margarete berichtete Rudis kleiner Schwester Ingrid später vom einzigen Besuch in der Heil- und Pflegeanstalt, dass man ihr die dreckige Kleidung übergab und mitteilte, sie könne ihren Sohn auf dem Friedhof besuchen.

Rudolf schafft es nicht.
Er kommt nicht mehr nach Hause.
Er stirbt.
Er verhungert.
Das ist im Juni 1945.
Da ist der Krieg schon lange vorbei.
Da stirbt keiner mehr an Hunger.
Aber Rudolf.
Er ist fünf-zehn Jahre alt als er stirbt.

Seine Mutter weiß nichts davon.
Sie reist nach Lüneburg.
Sie will ihn besuchen.
Da ist er schon begraben.
Eine Pflegerin gibt ihr seine Sachen.
Sie sind dreckig.
Von der Feld-Arbeit.
Die Pflegerin sagt ihr:
Rudolf liegt auf dem Fried-Hof.

Nachricht

von Margarete Hagedorn an Max Bräuner vom 2.7.1945.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.

Das ist eine Post-Karte.
Sie ist von der Mutter von Rudolf.
Sie fragt:
Wie geht es Rudolf?
Als sie die Post-Karte schreibt ist er schon tot.
Sie weiß es nicht.