Mehrere Mitglieder der Lüneburger Familie Marienberg wurden gegen ihren Willen sterilisiert. Weil einzelne Familienmitglieder mit der kommunistischen Partei sympathisierten, wurde die gesamte Familie erbbiologisch erfasst. Es wurden mehrere Verfahren zur Unfruchtbarmachung eingeleitet und die Zwangssterilisationen vollstreckt.
Thea Marienberg wurde am 7. April 1921 geboren. Sie war die Tochter des Fuhrunternehmers Otto Marienberg und dessen Frau Alwine, wohnhaft Am Berge 35. Ottos Bruder Albert war am 10. Juli 1931 wegen seiner kommunistischen Parteizugehörigkeit erschossen worden. Nach der Machtübernahme der NSDAP war Otto Marienberg Mitglied im kommunistischen Widerstand, weshalb er 1934 eine Gefängnisstrafe wegen »Hochverrat« absaß.
Die Familie Marienberg kommt aus Lüneburg.
Sie ist gegen die Nazis.
Darum werden sie verfolgt.
Mehrere aus der Familie werden zwangs-sterilisiert.
Thea Marienberg wird am 7. April 1921 geboren.
Ihre Eltern heißen Otto und Alwine.
Die Familie wohnt in Lüneburg, Am Berge fünf-und-dreißig.
Ottos Bruder Albert wird 1931 erschossen.
Weil er gegen die Nazis ist.
Otto ist auch gegen die Nazis.
Darum muss er 1934 ins Gefängnis.
von Thea und Erich Harenburg vom 28.2.1941.
Privatbesitz Uwe Marienberg.
Das ist ein Foto.
Das ist das Hochzeits-Foto von Thea und Erich Marienberg.
Es ist am 28. Februar 1941 gemacht.
1939 lernte Thea ihren zukünftigen Ehemann Erich Harenburg – Unteroffizier im Fliegerhorst Lüneburg – kennen und wurde schwanger. Um heiraten zu können, mussten sich beide zur Bescheinigung der »Ehetauglichkeit« an das Lüneburger Gesundheitsamt wenden. Aufgrund der politischen Aktivitäten ihres Vaters und angeblichen »Schwachsinns« in der Familie, wurde Thea für »eheuntauglich« erklärt. Es wurde ein Verfahren zur Unfruchtbarmachung eingeleitet.
Um trotzdem bald heiraten zu können und der Sterilisation zu entgehen, versuchte sie die Lüneburger Ämter auszutricksen. Während ihres laufenden Gerichtsverfahrens beim Erbgesundheitsgericht ging sie zum Gesundheitsamt Hamburg, um sich dort die Ehetauglichkeit bescheinigen zu lassen. Am 27. Februar 1940, demselben Tag, an dem das Lüneburger Erbgesundheitsgericht das Urteil über ihre Zwangssterilisation fällte, kam das Hamburger Gesundheitsamt zum gegenteiligen Ergebnis:
1939 verliebt sich Thea Marienberg.
Sie verliebt sich in Erich Harenburg.
Thea wird schwanger.
Darum wollen Thea und Erich heiraten.
Dafür brauchen sie eine Erlaubnis.
Aber Thea bekommt die Erlaubnis nicht.
Sie soll zwangs-sterilisiert werden.
Weil ihr Vater gegen die Nazis ist.
Das Gesundheits-Amt Lüneburg sagt:
Thea ist schwach-sinnig.
Aber Thea ist schlau.
Sie geht zum Gesundheits-Amt Hamburg.
Dort will sie die Erlaubnis zur Heirat bekommen.
Das Gesundheits-Gericht in Lüneburg sagt:
Thea soll zwang-sterilisiert werden.
Das ist am 27. Februar 1940.
Das Gesundheits-Amt Hamburg sagt:
Thea ist nicht schwach-sinnig und darf heiraten.
Das ist auch am 27. Februar 1940.
Was stimmt?
des Gesundheitsamts Hamburg an das Gesundheitsamt Lüneburg vom 27.2.1940.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 208.
Das ist ein Brief.
Der Brief ist vom Gesundheits-Amt Hamburg.
Er geht an das Gesundheits-Amt Lüneburg.
Darin steht:
Thea ist schlau.
Thea darf heiraten.
Er ist vom 27. Februar 1940.
des Erbgesundheitsgerichts Lüneburg [Auszug] vom 27.2.1940.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 208.
Das ist ein Beschluss.
Es ist ein Beschluss vom Gesundheits-Gericht in Lüneburg.
Darin steht:
Thea ist dumm.
Sie darf nicht heiraten.
Er ist vom 27. Februar 1940.
Mit der Ehetauglichkeitsbescheinigung stand der Eheschließung nichts mehr im Wege. Weil Thea aber in Lüneburg gemeldet war und die Hamburger Behörde die Lüneburger Amtskollegen über das Zeugnis informierte, flog alles auf. Das Hamburger Zeugnis wurde für ungültig erklärt.
Theas Vater Otto Marienberg legte Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss ein und ihr Fall ging an die nächsthöhere Instanz. Auch Erich Harenburgs Versuch, die Operation seiner zukünftigen Frau durch eine Eingabe bei der Kanzlei des Führers zu verhindern, blieb erfolglos. Am 10. Dezember 1940 wurden Thea im Städtischen Krankenhaus Lüneburg beide Eileiter entfernt. Danach stimmte Amtsarzt Rohlfing einer Eheschließung zu. Thea Marienberg und Erich Harenburg heirateten am 28. Februar 1941. Thea starb einen Tag vor ihrem 67. Geburtstag am 6. April 1988 in Hamburg.
Durch das Sterilisationsverfahren gerieten weitere Familienmitglieder von Thea Marienberg ins Visier der Gesundheitsbehörden. Ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Heinz wurde bereits am 2. Februar 1940 vom Gesundheitsamt Lüneburg für eine Sterilisation angezeigt. Da er sich zwei Jahre später im Alter von 16 Jahren freiwillig zur Front meldete, entging er weiterer Verfolgung. Hertha Bergmann, Theas ältere Schwester, war bereits verheiratet und dafür auf Ehetauglichkeit »ohne erbkranken Befund« untersucht worden. Dennoch übersandte Rohlfing dem für sie zuständigen Gesundheitsamt für eine Wiederaufnahme eine Kopie der Akte. Waltraut, die jüngste Schwester von Thea, entging der erbbiologischen Erfassung und Verfolgung altersbedingt. Sie war erst 1936 zur Welt gekommen.
Thea wohnt in Lüneburg.
Darum bestimmt das Gesundheits-Amt Lüneburg.
Der Vater von Thea beschwert sich.
Auch der Verlobte von Thea beschwert sich.
Beide haben keinen Erfolg.
Am 10. Dezember 1940 wird Thea operiert.
Sie wird im Kranken-Haus Lüneburg sterilisiert.
Danach darf sie heiraten.
Thea und Erich heiraten am 28. Februar 1941.
Thea stirbt am 6. April 1988 in Hamburg.
Sie stirbt einen Tag vor ihrem sieben-und-sechzigsten Geburtstag.
Auch andere Mit-Glieder der Familie Marienberg werden verfolgt.
Der Bruder von Thea soll auch sterilisiert werden.
Aber er meldet sich 1942 frei-willig als Soldat.
Er ist erst sechzehn Jahre alt.
Darum wird er nicht operiert.
Die ganze Familie Marienberg wird über-prüft.
Theas ältere Schwester Hertha ist schon verheiratet.
Trotzdem soll sie noch einmal unter-sucht werden.
Die jüngste Schwester Waltraud kommt erst 1936 zur Welt.
Sie ist zu jung und wird nicht operiert.
auf seinem Untersuchungsbogen vom 9.5.1938.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.
Das ist ein Foto von Karl Marienberg.
Es ist aus seinem Arzt-Bericht.
Es ist aus dem Jahr 1938.
Zwei Cousins und einer Halbcousine erging es ähnlich wie Thea Marienberg. Gegen Karl Marienberg, Sohn von Otto Marienbergs Bruder Gustav, wurde ein Sterilisationsverfahren eingeleitet, als er Berta Habenicht heiraten wollte. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg, besetzt mit Edzard Stölting, Max Bräuner und Wilhelm Vosgerau, lehnte am 7. Juli 1938 eine Sterilisation von Karl Marienberg zunächst ab. Dagegen legte Rohlfing vom Lüneburger Gesundheitsamt erfolgreich Beschwerde ein.
Das Erbgesundheitsobergericht beschloss am 25. Oktober 1938 die Unfruchtbarmachung von Karl Marienberg. Er wurde am 18. November 1938 im Städtischen Krankenhaus Lüneburg operiert. Am 13. Juni 1941 starb er »nach langem, schweren Leiden« an Tuberkulose.
Karl Marienberg ist ein Cousin von Thea.
Er will heiraten.
Er braucht eine Erlaubnis vom Gesundheits-Amt.
Aber das Gesundheits-Amt sagt:
Karl soll sterilisiert werden.
Das Gesundheits-Gericht sagt:
Nein.
Das Gesundheits-Amt beschwert sich.
Das Gesundheits-Gericht entscheidet:
Karl muss jetzt doch sterilisiert werden.
Karl wird am 18.November 1938 operiert.
Er wird im Kranken-Haus Lüneburg sterilisiert.
Am 13. Juni 1941 stirbt Karl an einer Lungen-Krankheit.
des Gesundheitsamts Lüneburg vom 27.7.1937.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1298.
Das ist ein Brief.
Es ist ein Brief vom Gesundheit-Amt.
Darin steht:
Karl Marienberg muss sterilisiert werden.
Der Brief ist vom 27. Juli 1937.
Karls Bruder Georg Marienberg wurde am 26. Juni 1938 beim Erbgesundheitsgericht Lüneburg angezeigt. Er wurde acht Wochen nach seinem Bruder operiert. Dennoch lehnte das Gesundheitsamt Lüneburg zwei Jahre später seine Eheschließung ab. Er beschwerte sich daraufhin beim Reichsminister des Innern, der der Vermählung schließlich zustimmte.
Georg Marienberg ist der Bruder von Karl.
Er wird am 26. Juni 1938 angezeigt.
Beim Gesundheits-Gericht Lüneburg.
Georg wird 8 Wochen nach seinem Bruder operiert.
Er wird auch im Kranken-Haus Lüneburg sterilisiert.
Zwei Jahre später will Georg heiraten.
Das Gesundheits-Amt sagt:
Nein.
Georg beschwert sich bei einem Minister.
Er schreibt:
Ich bin sterilisiert.
Er darf dann doch noch heiraten.
aus seiner Sterilisationsakte.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist ein Foto von Georg Marienberg.
Es ist aus seiner Patienten-Akte.
Das Foto ist aus dem Jahr 1938.
des Gesundheitsamts Lüneburg vom 17.8.1940.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist eine Bescheinigung vom Gesundheits-Amt.
Darin steht:
Georg soll nicht heiraten.
Die Bescheinigung ist aus dem Jahr 1940.
des Reichsministers des Innern vom 20.1.1941.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
Das ist ein Brief.
Er ist von dem Minister.
Darin steht:
Georg darf heiraten.
Er ist aus dem Jahr 1941.
Sechs Jahre nach Ende des Nationalsozialismus bemühte sich Georg Marienberg um Wiederaufnahme seiner Erbgesundheitssache und hoffte auf Entschädigung. In der Sitzung am 12. Oktober 1951 kam Amtsgerichtsdirektor Günter Jahn, der ab 1940 der Nachfolger von Stölting und bis Kriegsende der vorsitzende Richter am Erbgesundheitsgericht Lüneburg war, zu dem Ergebnis, dass der Beschluss des ehemaligen Erbgesundheitsgerichts aufrechterhalten werde. Georg Marienberg starb am 7. April 1979 in Lauenburg. Er hinterließ keine Kinder.
Sechs Jahre nach der Nazi-Zeit beschwert sich Georg Marienberg.
Er schreibt an das Gericht.
Er schreibt:
Meine Zwangs-Sterilisation ist nicht richtig.
Es ist Un-Recht.
Er möchte eine Entschuldigung.
Er möchte auch Geld für das Un-Recht.
Aber ein Richter und ein Arzt sagen:
Nein.
Der Richter ist auch schon Richter in der Nazi-Zeit gewesen.
Und der Arzt war auch schon Arzt beim Gesundheits-Amt Lüneburg.
Auch in der Nazi-Zeit.
Georg stirbt am 7. April 1979.
Er hat keine Kinder.
von Willi Baumert vom 13.3.1942, Seiten 1, 16 + 17.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 103/88 Nr. 663.
Das ist ein Arzt-Bericht vom 13.3.1942.
Nach Thea, Karl und Georg Marienberg wurde auch Emmi Nielson, die Halbschwester von Georg und Karl, für eine Unfruchtbarmachung angezeigt. Das Erbgesundheitsgericht Lüneburg beschloss am 14. April 1942 ihre Sterilisation. Ein Einspruch wurde am 1. Juni 1942 mit Gerichtsbeschluss des Erbgesundheitsobergerichts in Celle zurückgewiesen. Da sie den angesetzten Operationsterminen fernblieb, wurde sie polizeilich gesucht. Nach ihrer Festnahme wurde sie zu einer sechsmonatigen Haftstraße verurteilt, die sie im Frauengefängnis Verden absaß. Unmittelbar nach der Haftentlassung am 15. März 1943 wurde auch Emmi Nielson gegen ihren Willen sterilisiert.
Emmi Nielson ist die Halb-Schwester von Karl und Georg.
Sie wird auch angezeigt.
Das Gesundheits-Gericht sagt am 14. April 1942:
Emmi soll operiert werden.
Emmi beschwert sich.
Aber es nützt nichts.
Emmi geht nicht zur Operation.
Darum sucht die Polizei sie.
Dann muss Emmi sechs Monate ins Gefängnis nach Vechta.
Danach wird Emmi zwangs-sterilisiert.
des Staatlichen Gesundheitsamts Lüneburg, Hans Rohlfing an das Staatliche Gesundheitsamt Vechta vom 26.2.1943.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 2472.
Das ist ein Brief vom Gesundheits-Amt Lüneburg.
Es ist ein Brief an das Gesundheits-Amt Vechta.
Darin steht:
Emmi muss operiert werden.
Wenn sie aus dem Gefängnis raus kommt.
Der Brief ist vom 26. Februar 1943.
Wie Georg Marienberg stellte auch Emmi Nielson 1951 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Mit Beschluss vom 25. Mai 1951 folgte das Lüneburger Amtsgericht unter Vorsitz desselben Richters wie 1942, Richter Jahn, der Argumentation des Erbgesundheitsgerichts und lehnte auch in ihrem Fall die Wiederaufnahme des Verfahrens ab.
Emmi Nielson beschwert sich 1951 beim Gericht in Lüneburg.
Wie ihr Halb-Bruder Georg.
Sie möchte auch eine Entschuldigung und Geld für das Un-Recht.
Der Richter sagt:
Nein.
Es ist der gleiche Richter wie 1942.