Geschichte Raum geben

Die Geschwister

Gertrud, Herbert und Gerhard Glass

Elke Severon mithilfe von Pia Götze, Fenja Stöckel, Vivien Stöckel und Emma Werthmann

Gertrud Glass

auf dem Amtsärztlichen Gutachten über die Sterilisation, 1937. Als Begründung der Diagnose »Idiotie« ist unter anderem angegeben, beide Geschwister seien »ebenfalls Idioten«.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88Nr. 1560.

Das ist ein Arzt-Brief.
Über eine Zwangs-Sterilisation.
Darin steht:
Gertrud ist dumm.
Auch ihre Geschwister sind dumm.
Auf den Fotos ist Gertrud.

Gerhard Glass

auf dem Amtsärztlichen Gutachten über die Sterilisation, 1937.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1630.

Das ist ein Foto von Gerhard Glass.
Es ist aus einem Arzt-Brief.
Über eine Zwangs-Sterilisation von 1937.

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Die Geschwister Glass wurden in Hamburg-Wilhelmsburg geboren, Gertrud am 10. August 1916, Herbert am 4. September 1919 und Gerhard am 25. März 1921. In den 1930er-Jahren zogen sie mit ihren Eltern Melitta und Kurt Glass nach Sassendorf in den Landkreis Lüneburg. Die bürgerliche Familie lebte zurückgezogen.

Als die Geschwister Glass am 4. Oktober 1934 vom Lüneburger Nervenarzt Wilhelm Vosgerau beim Gesundheitsamt als »schwachsinnig« gemeldet wurden, war Gertrud Glass 18 Jahre alt, ihr Bruder Herbert 15 und der jüngste Bruder Gerhard 13 Jahre. Die drei amtsärztlichen Gutachten wurden nicht nur alle am gleichen Tag (12. November 1937) angefertigt, sie sind auch inhaltlich weitgehend identisch. Eine Woche später wurde die Unfruchtbarmachung der drei Geschwister aufgrund von »Idiotie« angezeigt. Am 17. Januar 1938 beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg die Zwangssterilisationen.

Der Widerspruch des Vaters wurde vor dem Erbgesundheitsobergericht in Celle in allen drei Fällen zurückgewiesen. In den wortgleichen Urteilen über Gertrud, Herbert und Gerhard Glass heißt es:

Gertrud Glass ist 1916 geboren.
Sie hat zwei jüngere Brüder.
Herbert ist 1919 geboren.
Gerhard ist 1921 geboren.
Die Familie wohnt in der Nähe von Lüneburg.
Sie haben wenig Kontakt.

Ein Arzt aus Lüneburg sagt:
Die drei Geschwister sind »schwach-sinnig«.
Das ist im Jahr 1934.
Da ist Gertrud acht-zehn Jahre alt.
Herbert ist fünf-zehn und Gerhard ist drei-zehn Jahre alt.

In allen drei Arzt-Briefen steht fast das gleiche.
Der Arzt schreibt die Briefe am gleichen Tag.
Das ist im November 1937.

Eine Woche später macht das Gesundheits-Amt eine Anzeige.
Die drei Geschwister sollen zwangs-sterilisiert werden.
Danach bestimmt das Gesundheits-Gericht:
Alle drei sollen operiert werden.
Das ist im Januar 1938.

Der Vater beschwert sich.
Er sagt:
Nein!
Aber das Gericht sagt Nein zu der Beschwerde.
Im Urteil steht:

»Alle drei Kinder sind hochgradig schwachsinnig. Der äußere Eindruck ist ganz unverkennbar der eines Idioten. Eine Intelligenzprüfung ist mit keinem der Geschwister möglich. […] Die Frage, ob der vorhandene Schwachsinn angeboren ist, muß bei dem häufigen Auftreten derselben Erkrankung in der Familie bejaht werden. […] Es mag sein, daß die Kinder gegenwärtig geschlechtliche Unterschiede nicht kennen. Das würde nicht ausschließen, daß sie gelegentlich von gewissenlosen Menschen geschlechtlich ausgenutzt werden. Die elterliche Obhut dauert nicht ewig, im Regelfall ist damit zu rechnen, daß die Kinder ihre Eltern überleben. […] Die Unfruchtbarmachung muss deshalb angeordnet werden.«

Urteil

des Erbgesundheitsobergerichts Celle über Gerhard Glass vom 1.3.1938.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1630.

Das ist ein Beschluss vom Gesundheits-Gericht.
Die Richter haben entschieden:
Gerhard Glass muss operiert werden.
Er muss sterilisiert werden.
Auch gegen seinen Willen.
Das entscheiden die Richter am 1. März 1938.

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Die Geschwister Glass wurden am 6. und 7. Juli 1938 im Lüneburger Krankenhaus zwangssterilisiert. Zwei Monate später zeigte sich bei ihrem Vater eine seelische Erkrankung, die eine Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg erforderlich machte. Ein Jahr später starb er infolge einer »progressiven Paralyse«.

Melitta Glass, nunmehr Witwe, lebte die folgenden Jahre weiter mit ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern in Sassendorf. Am 11. April 1942 empfahl der Amtsarzt Hans Rohlfing, alle drei Geschwister in die Anstalt einzuweisen. Er begründete die Aufnahme:

Die drei Geschwister werden zwangs-sterilisiert.
Das passiert am 6. und 7. Juli 1938.
Sie werden im Lüneburger Kranken-Haus operiert.

Zwei Monate später wird der Vater krank.
Er kommt in die Lüneburger Anstalt.
Ein Jahr später stirbt er.

Die Mutter ist alleine mit den drei Kindern.
Alle sind jetzt erwachsen.
Im April 1942 kommt der Amts-Arzt zu der Familie.
Er sagt:
Alle drei Geschwister sollen in eine Anstalt.
Er schreibt in seinem Bericht:

»Alle drei Kinder sind hochgradig schwachsinnig. Der äußere Eindruck ist ganz unverkennbar der eines Idioten. Eine Intelligenzprüfung ist mit keinem der Geschwister möglich. […] Die Frage, ob der vorhandene Schwachsinn angeboren ist, muß bei dem häufigen Auftreten derselben Erkrankung in der Familie bejaht werden. […] Es mag sein, daß die Kinder gegenwärtig geschlechtliche Unterschiede nicht kennen. Das würde nicht ausschließen, daß sie gelegentlich von gewissenlosen Menschen geschlechtlich ausgenutzt werden. Die elterliche Obhut dauert nicht ewig, im Regelfall ist damit zu rechnen, daß die Kinder ihre Eltern überleben. […] Die Unfruchtbarmachung muss deshalb angeordnet werden.«

Bericht

des Amtsarztes Dr. Hans Rohlfing vom 11.4.1942.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 2004/85 Nr. 01911.

Das ist der Bericht vom Amts-Arzt.
Er schreibt:
Die Mutter kümmert sich nicht.
Ihre drei erwachsenen Kinder sind dreckig.
Die Wohnung ist unordentlich.
Die drei Kinder müssen in eine Anstalt.
Der Bericht ist vom April 1942.

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Am 13. Mai 1942 wurden die drei Geschwister polizeilich in die Anstalt zwangseingewiesen. Ihre Mutter Melitta besuchte ihre erwachsenen Kinder am 4. Juni 1942, am 7. November 1942 und am 8. Mai 1943. Am 8. September 1943 wurden die drei Geschwister in die Landesheilanstalt Pfafferode verlegt. »Pfafferode« gehörte zu den Anstalten, in die nach dem Ende der »Aktion T4« Patientinnen und Patienten deportiert wurden, um sie dort durch gezielte Fehl- und Mangelversorgung sterben zu lassen. Von den Geschwistern Glass starb Gerhard zuerst. Sechs Monate nach seiner Ankunft in Pfafferode war er tot. Er starb am 7. März 1944. Einen Monat später war auch Herbert tot. In seiner Sterbemitteilung steht:

Die drei Geschwister kommen in eine Anstalt.
Das ist am 13. Mai 1942.
Die Polizei bringt sie dort hin.

Die Mutter besucht ihre Kinder.
Sie kommt im Juni 1942,
im November 1942 und
im Mai 1943.

Im September 1943 werden sie Geschwister verlegt.
Sie kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Pfafferode.

Dort bekommen die Patienten zu wenig zu essen.
Sie sollen sterben.
Sie werden ermordet.

Gerhard stirbt am 7. März 1944.
Einen Monat später stirbt Herbert.
Im Bericht über seinen Tod steht:

»Der am 8.9.43 in die hiesige Anstalt verlegte Herbert Glass aus Sassendorf, geboren am 4.9.19 in Wilhelmsburg ist am 15.5.1944 gestorben. Diagnose: Idiotie. Todesursache: Marasmus.«

Sterbemitteilung

über Herbert Glass der Landesheilanstalt Pfafferode an das Gesundheitsamt Lüneburg vom 15.5.1944.


NLA Hannover 138, Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1629.

Das ist ein Sterbe-Bericht.
Es ist der Sterbe-Bericht über Herbert Glass.
Darin steht:
Herbert ist dumm.
Er stirbt an Hunger.

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Bei Herbert wurde nicht einmal der Versuch unternommen, die wahre Todesursache zu verschleiern. Ein Jahr später, am 14. Mai 1945, starb auch Gertrud.

Die Anstalt sagt:
Herbert ist verhungert.
Ein Jahr später wird Getrud ermordet.
Sie stirbt am 14. Mai 1945.