Geschichte Raum geben

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Zu den Geschwister-Kindern, die in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen wurden, gehören auch die vier Geschwister der Familie Eilers: Siegfried (geboren 1929), Hannelore (geboren 1937), Irmgard (geboren 1938) und Ernst (geboren 1939). Ihre Lebenswege verkörpern das gesamte Spektrum der Verfolgung von Kindern und Jugendlichen in der »NS-Psychiatrie«. Es reicht von Tötung bis hin zu lebenslangem Anstaltsaufenthalt.

Zunächst wurde nur der elfjährige Siegfried, ältester Sohn des Arbeiters Wilhelm Heinrich Eilers und seiner Ehefrau Luise, geb. Schomburg, in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission eingewiesen. Mit der Aufnahme verband sich der Wunsch, ihn adäquat zu beschulen. Siegfried war gehörlos, da er jedoch fröhlich war und für praktische Dinge Aufmerksamkeit zeigte, bestand Optimismus.

Am 9. Oktober 1941 erfolgte Siegfrieds Verlegung in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Doch er entkam einer Aufnahme, da seine Mutter ihn am gleichen Tag in Lüneburg abholte und nach Hause holte. Es gibt Hinweise darauf, dass sie über kirchliche Kontakte vor einer Aufnahme in die »Kinderfachabteilung« gewarnt worden war.

Waltraut, Siegfried, Hannelore, Irmgard und Ernst Eilers sind fünf Geschwister.
Siegfried, Hannelore, Irmgard und Ernst sind zwischen 1929 und 1939 geboren.
Siegfried ist der älteste Bruder.
Ernst ist der Jüngste.
Die Eltern sind Heinrich und Luise.
Der Vater ist Arbeiter.

Alle vier kommen in die Kinder-Fach-Abteilung nach Lüneburg.

Erst kommt nur Siegfried in die Anstalt.
Es ist eine Anstalt in Roten-Burg.
Die hat eine Schule für Kinder mit Behinderungen.

In Roten-Burg geht Siegfried zur Schule.
Siegfried kann nicht hören.
Er ist gehör-los.

Die Anstalt in Roten-Burg wird geschlossen.
Siegfried kommt in die Anstalt nach Lüneburg.
Das ist am 9. Oktober 1941.

Er kommt in die Kinder-Fach-Abteilung.
Dort gibt es keine Schule.

Die Mutter von Siegfried bekommt eine Nachricht.
Ein Pastor sagt ihr:
Siegfried ist in Lüneburg.

Seine Mutter findet das nicht gut.
Sie holt ihn ab.
Sie holt ihn nach Hause.
Das ist auch am 9. Oktober 1941.

Schreiben

der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg an das Kreiswohlfahrtsamt Hameln-Pyrmont vom 15.10.1941.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Das ist ein Brief.
Darin steht:
Die Mutter hat Siegfried aus der Anstalt ab-geholt.
Er ist nicht mehr in Lüneburg.
Er ist wieder zu Hause.

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Ein Jahr später wurde Siegfried Eilers auf Initiative des Fürsorgeverbandes erneut in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen. Maßgeblich war nun, dass die Familie aufgrund einer inzwischen zerrütteten Ehe jetzt als »kinderreich, asozial« galt. Ein Versuch, ihn im Jahr 1943 in die Fürsorgeerziehung nach Wunstorf zu entlassen, scheiterte am Gutachten des Willi Baumert:

Ein Jahr vergeht.
Die Eltern von Siegfried trennen sich.
Die Mutter ist mit den vier Kindern alleine.
Andere sagen:
Die Familie Eilers ist anders.
Die benehmen sich anders.
Die sollen so nicht sein.

Darum muss Siegfried wieder in die Anstalt.
Er muss wieder in die Kinder-Fach-Abteilung.
Er kommt am 9. Oktober 1942 an.
1943 entscheidet der Arzt Willi Baumert:
Siegfried muss in der Anstalt bleiben.

»der Jugendliche kommt aus einer erblich belasteten, asozialen Großfamilie. […] In intellektueller Hinsicht zeigt er erhebliche Ausfälle, die nicht durch seine Taubstummheit verursacht sind.«

Gutachten

von Willi Baumert vom 19.1.1943.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Das ist ein Bericht.
Vom Arzt Willi Baumert geschrieben.
Darin steht:
Siegfried kann nicht hören.
Siegfried ist dumm.
Siegfried muss in der Anstalt bleiben.

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Willi Baumert war nicht nur hinsichtlich der anhaltenden Anstaltsunterbringung von Siegfried die Schlüsselfigur, sondern auch in Bezug auf dessen Geschwister. Sie wurden am 22. Januar 1943 der Mutter weggenommen und ins Provinzial-Jugendheim Wunstorf eingewiesen.

Als ärztlicher Fachberater des Provinzial-Jugendheimes Wunstorf verfasste Baumert infolgedessen auch über Siegfrieds Geschwister Hannelore, Irmgard und Ernst identische Gutachten, die schlussendlich nicht in ein herkömmliches Heim, sondern zu ihrer gemeinsamen Einweisung in die von ihm geleitete »Kinderfachabteilung« führten. Am 28. Juni 1943 kamen die drei Kinder in Lüneburg an, begleitet von einer DRK-Schwester.

Der Arzt entscheidet:
Die drei Geschwister von Siegfried sollen auch in die Anstalt.
Der Arzt untersucht Hannelore, Irmgard und Ernst.
Er sagt:
Hannelore ist dumm.
Sie kann nichts.
Irmgard ist dumm.
Sie kann nichts.
Ernst ist dumm.
Er kann nichts.

Danach müssen alle Kinder auch in die Kinder-Fach-Abteilung.
Sie kommen nach Lüneburg.
Sie kommen zu Siegfried.

»Die Kinder stammen aus denkbar ungünstigen Verhältnissen und sind von Seiten der Mutter als erheblich belastet anzusehen. Ein Bruder ist bereits wegen hochgradigen Schwachsinns in der Anstalt Lüneburg untergebracht. Die Kinder Hannelore, Irmgard und Ernst sind körperlich leidlich normal entwickelt, sie sind aber entsprechend der Belastung in ihrer geistigen Entwicklung weit zurückgeblieben. […] Insgesamt ergibt sich bei allen drei Kindern das Bild eines angeborenen Schwachsinns. Sie sind im Rahmen der Fürsorgeerziehung nicht tragbar, da sie infolge ihrer Geistesschwäche erziehlichen Maßnahmen gegenüber unbeeinflußt bleiben. Zweckmäßig ist daher das Ausscheiden der Kinder nach § 73 RJWG und die Unterbringung in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder, in der eine gewisse Förderung noch möglich ist. gez. Dr. Baumert. Prov. Med. Rat.«

Ärztlicher Bericht vom 14.5.1943 verfasst von Willi Baumert.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 1531.

Das ist ein Bericht.
Vom Arzt Willi Baumert geschrieben.
Darin steht:
Hannelore ist dumm.
Irmgard ist dumm.
Ernst ist dumm.
Sie sind zu dumm für die Schule.
Sie müssen in eine Anstalt.

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Die Schwestern seien am Anfang sehr anhänglich gewesen, auch hätten sich die Mädchen sehr über Begegnungen mit dem älteren und jüngeren Bruder gefreut, ist der Krankenakte zu entnehmen.

Weil sich Irmgard und Hannelore allmählich interessiert zeigten, mit anderen Kindern sprachen, verstanden, was man ihnen auftrug, zielgerichtet spielten, dabei ausgelassen und fröhlich waren, sich selbständig zurechtfanden und sauber hielten, kam Willi Baumert nach einer mehrwöchigen Beobachtungszeit im Juli bzw. August 1943 zu der Beurteilung, dass bei den Schwestern Irmgard und Hannelore nun doch eine gewisse Bildungsfähigkeit vorläge. Am 26. Januar 1944 wurden die Schwestern gemeinsam nach Eben-Ezer (Lemgo) verlegt. Von dort wurden sie erst 1960 bzw. 1962 entlassen.

Die Schwestern freuen sich.
Sie sehen ihren Bruder Siegfried wieder.
Das tut ihnen gut.
Sie sind fröhlich.
Sie spielen.
Sie können sich waschen.
Sie machen alles richtig.

Deswegen entscheidet der Arzt:
Hannelore und Irmgard sollen doch zur Schule gehen.
Hannelore und Irmgard kommen in eine andere Anstalt.
Sie kommen nach Lemgo.
Da gibt es eine Schule.
Sie bleiben in Lemgo.
Auch als der Krieg aus ist.
1960 und 1962 dürfen sie nach Hause.
Da sind sie keine Kinder mehr.
Da sind sie erwachsene Frauen.

Krankengeschichte von Hannelore.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 1531.

Das ist ein Bericht über Hannelore.
Darin steht:
Hannelore ist schlau.
Sie darf auf eine Schule gehen.
Sie kommt nach Lemgo.

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Mit der Räumung von Haus 23 wurde der jüngere Bruder Ernst im Herbst/Winter 1944/1945 in das Haus 24 verlegt. Im Januar 1945 notierte Frau Kleim, Sekretärin des Ärztlichen Direktors, Ernst sei ein

Ernst und Siegfried bleiben in der Anstalt.
Die Brüder bleiben zusammen.
Im Januar 1945 ändert sich das.
Ernst muss auf eine andere Station.

»nettes, anhängliches Kind. Interessiert an allen Vorgängen seiner Umgebung. Versucht durch Zeichen verständlich zu machen, was er will. Spielt sehr nett mit anderen Kindern zusammen mit Häusern und Bauklötzen.«

Krankengeschichte von Ernst Eilers, Eintrag vom 1. bzw. 11.1.1945.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 232.

Das ist ein Bericht über Ernst.
Darin steht:
Ernst ist freundlich.
Er ist fröhlich.
Er spielt mit anderen Kindern.
Er kann nicht hören.
Aber er macht mit Händen Zeichen.
Das verstehen die anderen.

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Dass er zu den beliebten Kindern auf Station gehörte, rettete sein Leben nicht. Mit fast sechs Jahren wog er nur 16 Kilo und war unterernährt. Am 11. April 1945 starb Ernst. Die offizielle Todesursache lautete »Lungenentzündung« und »akute Nephritis«, also Nierenentzündung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit starb er infolge einer Mangelernährung.

Nach Ernsts Tod blieb Siegfried alleine in der »Kinderfachabteilung« zurück. Er hatte eine besonders vertraute Person verloren, seinen jüngeren Bruder, der wie er gehörlos gewesen war. Siegfried überlebte die »Kinderfachabteilung«, blieb jedoch Anstaltspatient. Einer Urlaubsmeldung vom 10. Juli 1947 kann entnommen werden, dass Siegfried aus der Anstaltsfürsorge offenbar nur ein einziges Mal nach Hause geholt wurde. 1955 bat seine Schwester Waltraut – es ist unklar, ob es sich bei ihr um die älteste Schwester handelt – Siegfried möge zu Weihnachten beurlaubt werden.

Ernst ist beliebt.
Alle mögen ihn.

Aber Ernst bekommt zu wenig zu essen.
Er wird ganz dünn.
Er wird auch krank.
Er verhungert.
Er stirbt im April 1945.

Sein Bruder Siegfried ist bei ihm.
Siegfried bekommt den Tod von Ernst mit.
Er ist sehr traurig.
Eine Woche später ist der Krieg aus.

Siegfried ist jetzt alleine.
Er bleibt in der Anstalt.
Er darf nur für ein paar Tage nach Hause.
Seine Schwester Waltraut will mit ihm Weihnachten feiern.
Das ist im Jahr 1955.

Schreiben von Waltraut G.

an das Landeskrankenhaus Lüneburg vom 19.11.1955.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Das ist ein Brief.
Der Brief ist an die Anstalt.
Er ist von seiner Schwester Waltraut.
Sie will Siegfried nach Hause holen.
Sie will Weihnachten mit ihm feiern.
Sie hat Siegfried drei-zehn Jahre lang nicht gesehen.

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Aus Fragen bzw. Zweifeln der Schwester Waltraut, ob Siegfried überhaupt in der Lage sei, eine Stellung anzunehmen, wie er wohl aussehen würde und wie sie sich ihn vorzustellen habe, wird deutlich, wie stark Siegfried von seiner Familie isoliert geblieben war und welch geringes Interesse ihm während seiner Zeit in der Anstalt entgegengebracht wurde.

In der Psychiatrie war Siegfried wohl schon mehrere Jahre im Rahmen der Arbeitstherapie in der Landwirtschaft eingesetzt gewesen und somit durchaus in der Lage, leichte Tätigkeiten auszuüben. Auch deswegen bot man der Schwester an, Siegfried gänzlich aus der Anstaltspflege zu entlassen.

Aber es kam anders: Einen Tag bevor Siegfried eigentlich beurlaubt und nach Hause abgeholt werden sollte, sagte Waltrauts Ehemann die Abholung ab. Weitere Versuche, Siegfried zu beurlauben bzw. zu sich zu holen, sind in der ansonsten relativ vollständigen Akte nicht dokumentiert. Siegfrieds Zeit in der Lüneburger Anstalt endete erst im Januar 1969. Mit elf Jahren als Kind aufgenommen, wurde er nach 29 Jahren ununterbrochener »Anstaltspflege« in Lüneburg als fast 40jähriger Mann aus Haus 19 in die Außenstelle des Landeskrankenhauses Königslutter, nach Schloss Ringelheim in Salzgitter verlegt. Dort starb er im Jahr 1976.

Waltraut will Siegfried wieder-sehen.
Sie hat ihn drei-zehn Jahre lang nicht gesehen.
Sie fragt:
Was kann mein Bruder Siegfried?
Kann er arbeiten?

Ein Arzt in der Anstalt antwortet:
Siegfried kann arbeiten.
Er kann auf einem Bauern-Hof helfen.
Er muss nicht in der Anstalt bleiben.
Er kann zu Waltraut.
Er kann auf ihrem Bauern-Hof arbeiten.

Aber:
Waltraut bekommt Angst.
Sie ist sich unsicher.
Sie holt ihn nicht ab.
Sie entscheidet:
Siegfried muss in der Anstalt bleiben.

Viele Jahre vergehen.
Siegfried ist kein Kind mehr.
Er ist ein Mann.
Er ist fast vierzig Jahre alt.
Er kommt in eine andere Anstalt.
Er kommt von Lüneburg nach Königs-Lutter.
Das ist im Jahr 1969.

Sieben Jahre später stirbt Siegfried.
Er ist nie wieder aus der Anstalt raus-gekommen.
Er hat die Kinder-Fach-Abteilung überlebt.
Er ist aber nie frei und immer alleine.

Waltraut G. bemühte sich,

ihren jüngeren Bruder Siegfried zu beurlauben. Sie hoffte, er könne im landwirtschaftlichen Betrieb mithelfen. Nachdem sie erfuhr, dass ihr gehörloser und sprachbeeinträchtigter Bruder nur Hilfsarbeiten unter Aufsicht ausführen könne, wurde der Urlaubsantrag zurückgezogen.

Schreiben von Waltraut G. an das Niedersächsische Landeskrankenhaus Lüneburg vom 28.11.1955.

NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/64 Nr. 1603.

Das ist ein Brief.
Es ist ein Brief von Waltraut.
Sie fragt:
Was kann mein Bruder Siegfried?
Kann er arbeiten?
Sie schreibt:
Ich werde Siegfried ab-holen.